Knöllenbecks zwanzigster Fall (Teil 1)
Teil 1: Warum liegt hier Stroh rum?
Laut knallte das Eisengitter zur Seite und wie Raketen schossen die Pferde aus ihren Boxen. Mit atemberaubendem Tempo galoppierten sie die Rennbahn entlang. Schnell setzte sich „Furious“ an die Spitze, dicht gefolgt von „Acht“ und „Mannequin“. Die Hufe schlugen hart auf den Boden, warfen den Sand auf. Noch zweihundert Meter bis zur Ziellinie. Der Jockey von „Acht“ gab alles, der Vorsprung zu „Furious“ schmolz dahin. Die Pferde rasten in die Zielgerade. „Furious“ schnaubte wild und preschte wieder nach vorne, ließ „Acht“ keine Chance. Und dann waren sie auch schon im Ziel. Souverän wie immer hatte „Furious“ auch dieses Rennen gewonnen. Die Zuschauer eilten zu den Kassenhäuschen. Fast alle hatten auf „Furious“ gesetzt. Jetzt kassierten sie ihre Gewinne. „Furious“ war der Star der Markscheider Pferderennbahn.
Kriminalrat Möller schaute Knöllenbeck ernst an. An diesem Morgen überschlugen sich die Ereignisse im Kommissariat. Gerade erst hatte Bürgermeisterin Crohn-Corque angerufen und ihn mächtig unter Druck gesetzt. Jetzt standen auch schon die Reporter von ‚Markscheid am Mittwoch‘ vor der Tür und verlangten lärmend, ihre Fragen stellen zu dürfen. Ganz Markscheid schien in Aufruhr. Möller musste sich kurz fassen: „Also Knöllenbeck, so sieht es aus: Heute früh öffnete der Stallbursche wie gewohnt die Pferdebox, um „Furious“ seine übliche Ration Hafer zu bringen. Doch die Box war leer. „Furious“ ist verschwunden. Finden Sie ihn! Und nehmen Sie die Freudenreich mit. Die kann ich heute hier gar nicht gebrauchen!“
Zwanzig Minuten später. Kriminalkommissar Knöllenbeck und Jacqueline Freudenreich, seine neue Assistentin, standen vor der verwaisten Pferdebox. Der Boden war mit Stroh und Pferdeäpfeln bedeckt. In der Ecke stand ein halbleer getrunkener Eimer Wasser. Ansonsten war die Box vollkommen leer. Knöllenbeck überlegte, wie er angesichts dieser dürftigen Ausgangslage die Ermittlungen gestallten sollte. Er griff zum Handbuch für Kriminologie, das er stets mit sich führte, und schlug Kapitel 26 auf:
Vermissen, Verlieren und Verschwinden
1. Sichern Sie zunächst die Sporen am Tatort.
2. Befragen Sie die Zeugen in der Reihenfolge ihrer Bedeutung für den Fall.
3. Finden Sie die verschwundene Person oder das verlorene Objekt und bringen es zurück.
Leider war dem Verlag des Handbuchs für Kriminologie in Punkt 1 ein bedauerlicher Druckfehler unterlaufen. Richtig sollte es natürlich heißen: „Sichern Sie zunächst die Spuren am Tatort“. Als Beamter, der es gewohnt war, Anweisungen immer buchstabengetreu auszuführen, bemerkte Knöllenbeck den Fehler nicht. Er bat Baron von Dorschewitz, den Betreiber der Rennbahn, ihm alle verfügbaren Sporen zu zeigen. Der Baron führte sie in einen Raum, der bis oben hin mit Reitutensilien gefüllt war und ließ die beiden dann allein. Neben Pferdesporen sah man noch Satteldecken, Zügel, Lederriemen, Reitgerten, Peitschen und Sättel in den verschiedensten Größen und Formen. „Haben Sie schon einen Verdacht?“, fiepte Jacqueline. Knöllenbeck betrachtete die Pferdesporen und überlegte, warum die Autoren des Handbuchs sie wohl für wichtig hielten. „Was ist denn nun mit Ihrem Verdacht?“, fiepte Jacqueline erneut. „Ihrem Pferd Acht?“, wiederholte eine weibliche Stimme hinter ihnen. Knöllenbeck und Jacqueline drehten sich um.
Die Stimme gehörte einer dicklichen Endvierzigerin, die Knöllenbeck bewundernd anschaute. „Höre ich richtig, Pferd ‚Acht‘ gehört Ihnen?“, flötete die Endvierzigerin erneut und strich sich lasziv durch’s dünne Haar. „Äh, also…“, begann Knöllenbeck, doch die Endvierzigerin unterbrach ihn sogleich: „So ein Hengst ist doch ein wundervoll viriles Tier, finden Sie nicht? Diese Muskeln. Diese Stärke. Diese Kraft. Ich suche schon lange nach einem maskulinen Hengst, den ich wild reiten kann.“ Knöllenbeck wußte nicht, was er sagen sollte. Die Endvierzigerin fuhr fort: „Am liebsten schaue ich einem potenten Hengst beim Reiten natürlich in die Augen. Die Reiterstellung hat schon etwas erhabenes. Ich möchte diese pulsierende Kraft, diese rhythmischen Bewegungen unter mir spüren. Können Sie mir folgen?“, fragte sie und fügte leise hinzu: „Ich wohne drüben in der Pension ‚Reiterklause‘. Sie warf Knöllenbeck einen verschwörerischen Blick zu und ging dann nach draußen. Knöllenbeck war perplex. Er kannte sich mit diesen Dingen nicht sonderlich gut aus, aber wie wollte die Endvierzigerin beim Reiten einem Pferd in die Augen schauen? Knöllenbeck fand das etwas sonderbar. „Ich möchte mich ja nicht in Ihr Privatleben einmischen“, fiepte Jacqueline. „Aber sollten wir nicht besser das verschwundene Pferd suchen?“
Ein besonderer Dank gebührt dem Newsticker-Autor p2k für das Wortspiel „Pferd Acht“.
Lesen Sie in Kürze den zweiten Teil: „Jacqueline dreht auf“.