Der verschwundene Max
An einem Winterabend eines Jahres erzählt die Grossmutter ihrer Enkelin diese Gutenachtgeschichte:
Kennst du die Geschichte vom verschwundenen Max? Sie ereignete in einer Zeit, als Markscheid noch klein war, nur ein Gasthaus hatte und deine Grossmutter so alt war wie du jetzt; überhaupt: In einer Zeit, als vieles noch anders war.
Max war ein neugieriger, aufgeweckter Junge, der aber nie auf das hören wollte, was die Eltern ihm sagten, immer kam er zu spät heim, wollte sich – schmutzig vom Wald – an den Tisch setzen und lachte nur, wenn man ihn hiess, das Gesicht und die Hände zu waschen. So einer war er.
Eines Abends kam Max nicht nur sehr spät, nein, da kam er gar nicht nachhause. So machten sich schliesslich – es war schon fast Mitternacht – einige Mutige auf, ihn zu suchen.
Die Spatzen schwiegen still von den Dächern, aus dem laublosen Astgerippe tropfte leise die Nässe des Nebels, als im Fickwalder Forst ein Golz durch die Nacht grellte. Die Zuhausegebliebenen erschauerten und schlossen die Türen. Die Suchenden hatten Angst.
„Gib acht, geh nicht an den Sumpf, dort wurgelt der Brotz durch das dunkle Wasser,“ sagten die Leute früher. Heute kennt kaum jemand mehr den Brotz. Aber er ist noch da. Brotze werden sehr alt. Und verschlagen. Unbeweglich lauert er auf Beute, um sich dann mit seinen langen Fangarmen und schrecklichen Zähnen auf alles Lebendige zu stürzen, das in der Dämmerung noch draussen ist. Zum Beispiel auf unfolgsame Kinder, die zu spät nachhause kommen, oder sich an unerlaubten Orten herumtreiben.
Und der Golz: Immer trifft man ihn des Nachts in der Nähe von Häusern, wo kranke und sterbende Menschen ihre letzten, allerletzten Stunden verbringen. Er wartet auf ihre Seele, schluckt sie und nimmt sie dann mit. Wohin weiss keiner.
Die Markscheider durchkämmten also den Forst bis hin an den Sumpf, achteten auf alles Wuseln, Knacken, Knirschen und Gurgeln, riefen nach Max, hielten inne, um zu horchen, leuchteten in abgestorbenes Gestrüpp und hinter umgefallene Bäume. Sie gruben Ameisenhaufen um, stocherten mit Stangen in Laubhaufen, schreckten Würmlinge, Kratzbeiner und Knallzoffen aus dem Winterschlaf, aber:
Kein Max. Keine frisch abgenagten Knochen. Nichts.
Der Nachtwächter Alfred Knäcker fand schliesslich einen Handschuh und brachte ihn nach Markscheid ins Wirtshaus, wo die Suchtrupps bei Glühwein nach guten Ideen sannen. Alle waren froh über den Fund und man bewunderte den Nachtwächter für seinen Spürsinn. Und Maxens Vater sagte: „Ist wieder typisch, lässt der Bursche seine Handschuhe im Wald herumliegen“. Aber man atmete auf: der Handschuh bewies, dass Max im Fickwalder Forst, also in der Nähe, unterwegs gewesen war. Leider konnte sich Knäcker nicht mehr erinnern, wo er den Handschuh gefunden hatte. Und da es mittlerweile spät und immer noch dunkel war und die meisten nicht mehr so gerade auf den Beinen standen, verabredete man sich auf den nächsten Abend, um die Suche fortzusetzen. Diese gute Idee wurde begeistert aufgenommen und so wurde es gemacht.
Wieder traf man sich am Abend, suchte den Max und kehrte dann ins Wirtshaus zurück, trank Glühwein und Schnaps und wankte dann nach Hause. Und am folgenden Abend wieder und wieder und so fort.
Und so entstand die Redewendung: „Lasst uns den Max suchen“, was bedeutet, dass man sich im Wirtshaus trifft und trinkt und schwadroniert und philosophiert und der vergangenen besseren Zeiten gedenkt.
Seither meiden brave Kinder den Fickwalder Forst und seine Sümpfe und die Erwachsenen treffen sich abends zu geselligem Umtrunk.
Max wurde bisher nicht gefunden und wenn er nicht gestorben ist, dann kommt er wieder zurück.