Markscheids rote Liste – Teil 1
Willkommen zu Markscheids roter Liste, der vom Aussterben bedrohter Arten aus heimischem Wald, Flur und Haus. In diesen turbulenten Zeiten verschwinden Dinge aus dem Bewusstsein oder vermodern in düsteren Kellern oder warten frustriert und verzweifelt auf den Sperrmüll.
Heute gedenken wir als erstes den analogen Fotos. Vor noch gar nicht so langer Zeit wurden diese weit verbreiteten und, in seltenen Fällen, ästhetisch anspruchsvollen Tierchen noch in nahezu jedem Haushalt gefunden. Mit ihren nahen Verwandten, den Dias, gemeinsam bildeten sie quasi das Gedächtnis der visuellen Welt. Dabei spielte die künstlerische Qualität zumeist eine untergeordnete Rolle, vor allem bei den „ich war in Moskau, am Polarkreis oder auf Malle“ Motiven, die sonderbare Gestalten vor unscharfen Hintergründen abbildeten.
Auch wenn dies nur teilweise funktionierte, bildeten der Platzverbrauch sowie die Lagerkosten eine Einschränkung der Wohnhöhlen des Menschen. Fotos waren weit verbreitete Kulturfolger. Ursprünglich in den unwirtlichen Gefilden der Labors in Händen schrulliger Chemiker, eroberten sie bald nach ihrer Entstehung die Zivilisation.
Allerdings dienten sie weniger, als ihre nächsten Verwandten, den Dias, der Folterung von Freunden, Verwandten und Bekannten. Diese, klein unscheinbar und lichtdurchflutet, konnten doch alsbald ihre gefährliche Macht ausspielen. Vor dem Waterboarding durch die Geheimdienste wurden die Diaabende von den Vereinten Nationen geächtet. trotzdem sollten diese bis heute noch Verbreitung finden. Abgedunkelter Raum, ein wenig unauffällig dargebotenes Knabbergebäck, dann die Ankündigung in sanfter aber bestimmter Stimme: „Auf vielfachen Wunsch, zeige ich die Eindrücke meiner letzten Frankreichreise.“ Das Auditorium erstarrte, die Delinquenten erbleichten. Niemand hatte den Wunsch nach dieser Folter geäußert. Schon verdunkelte sich der Raum, ein Diaprojektor erschien und ein Stapel an grauen unscheinbaren Kästen wurde im fahlen Schein des Projektors sichtbar. Bei der beiläufigen Erwähnung der Zahl 50 entspannten sich die Verurteilten und griffen herzhaft zu den Salzsticks, als eine Ergänzung sie erstarren ließ. „Filme.“ Das machte 1800 Dias! Doch schon leuchtete das erste Bild auf und ein besonders verweichlichter Gast fiel ins Koma.
Die Ontogenese der Fotos ist eines der bemerkenswertesten Vorgänge in der belebten Welt, der in den letzten Jahrtausenden beobachtet werden konnte. Die Zeugung erfolgte stets im Dunkeln unter Zuhilfenahme lichtempfindlichen Materials (Film) und in einer Kamera. Durch komplexe biochemische Prozesse verwandeln sie sich im Rahmen einer Metamorphose in das fertige Foto. Dem Laien erscheint dies auch heute noch als leibhaftiges Wunder.
Leider wurden diese anmutigen und durchaus nützlichen Geschöpfe durch ihre digitalen Brüder und Schwestern verdrängt und führen seitdem eine Nischenexistenz am Rande der Gesellschaft. Gerade die Jüngeren unter uns kamen kaum einmal mehr mit ihnen in Berührung. Der Verzicht auf die Metamorphose und die nahezu kostenlose Speichermöglichkeit ließen dem klassischen Foto keinen Raum mehr in unserer technisierten Gesellschaft. Jedoch vervielfältigte sich deswegen die Menge an Dokumenten der Wirklichkeit in einer Menge, dass sich Historiker in den nächsten Generationen nicht einmal mehr einen Bruchteil dieser Fotos betrachten können und sicherlich in diesen Müllhalden der Digitalität ersticken werden. Relevantes versteckt sich dabei in einer Masse aus Trivialität.
Lassen Sie uns die letzten Exemplare der Fotos und Dias bewahren, die heute noch anzutreffen sind und gedenken wir der mannigfaltigen Ausprägung dieser Arten, die doch so das Leben unserer Eltern und Großeltern prägten.