Verzicht wird Pflicht
Unter dem markanten Motto: ‚Verzicht wird Pflicht‘ hatte sich der Gemeinderat unter der bewährten Führung der Bürgermeisterin Frau Crohn-Corque auf Leisure Island in der Karibik eingefunden.
Nahezu CO²-neutral wurde die beschwerliche Anreise in einem extra angemieteten Jumbo Jet durchgeführt, das letzte Stückchen allerdings auf der Fähre Heavy-Oil, aus deren Schornsteinen schwarze Schwaden in den blauen Himmel stiegen.
Nach einer Woche, die der Gemeinderat benötigte, um sich von den Strapazen der Anfahrt zu erholen, traten sie, im Schnitt um 3,6 Kilogramm schwerer, zusammen, um den ersten der beiden Tagesordnungspunkten abzuarbeiten.
Frau Crohn-Corque ließ sich von einem wohlgewachsenen jungen Mann, der in den letzten Tagen häufig in ihrer Nähe gesehen wurde, einen Cocktail reichen. „Danke schön“, nickte sie ihm zu.
Sie erhob die Stimme: „Verzicht wird Pflicht. Dieses wunderschöne Motto, das dem von ‚Kraft durch Freude‘ in nichts nachsteht, wird der Schwerpunkt dieses Winters werden. Bei Erfolg natürlich auch für die folgenden Monate und Jahre. Never change a running gag, wie ich immer sage.“
Beifall brandete auf, die leicht alkoholisierten Damen und Herren schienen zufrieden zu sein. Kaum einer hatte sich über den persönlichen Betreuungsservice beschweren können.
„Jetzt kommt es darauf an, dieses Motto für die Bevölkerung mit Leben zu füllen, es soll keine hohle Phrase bleiben.“
Allgemeines Nicken.
„Wir haben in einem kleinen Kreis uns schon die Ergänzungen und Umsetzungen überlegt. Es beginnt mit: ‚Kaltes Duschen ist gesund‘, geht weiter mit ‚Im Homeoffice stinkt es sich besser‘ bis zu ‚Frieren ist ein natürliches Zustand.‘ Wenn ihr wisst, was wir meinen.“
Eine kritische Stimme meldete sich. „Es gibt doch auch Warmduscher, die es seit Jahren gewöhnt sind, auf kaltes Wasser bei der Körperpflege zu verzichten.“
„Pfui“, riefen alle durcheinander.
„Nun, das soll vorkommen. Man muss es sich eben leisten können. Wenn jemand stattdessen auf Nahrung oder andere Energie verzichten möchte: Gerne. Wir leben in einer freien Gesellschaft“, murmelte Crohn-Corque.
Sie fuhr fort: „Als flankierende Maßnahme werden wir die Steuern und Abgaben erhöhen. Nachdem unsere Wissenschaftler gravierende Änderungen im Antlitz der Erde festgestellt haben, werden wir um eine Erdwinkelreduzierungsvermeidungssteuer sowie eine Erddrehungsverhinderungsabgabe nicht herum kommen, da die entsprechenden Anträge auf ein Verbot der Änderungen sowie deren Sanktionierung nicht im UN Sicherheitsrat diskutiert werden dürfen.“
Sie nahm einen Schluck des grün schimmernden Cocktails und ließ sich von dem Mann die Schultern massieren.
„Das tut gut. Äh. Zudem haben wir uns endlich durchgerungen, eine Wärmesteuer einzuführen, die ab einer Maximaltemperatur von 20° und zu einer zusätzlichen Hitzeabgabe, die ab einer Temperatur von 30° eingezogen werden.“
Allgemeines Nicken war die Folge.
„Und die erzielten Mehreinnahmen der Gemeinde kommen natürlich nicht der Allgemeinheit, der Infrastruktur zugute, sondern damit bestreiten wir unseren Aufenthalt hier auf Leisure Island.“
„Wann fliegen wir eigentlich zurück?“, fragte die erste Reihe.
„Das ist nun der Tagesordnungspunkt 2. Vorläufiger Umzug des Gemeinderats nach Leisure Island. Bis alle Krisen in Markscheid und der Welt gelöst sind.“
Unter frenetischem Beifall wurde der Beschluss angenommen und die Bevölkerung schonungslos auf weitere Einschränkungen eingestimmt.