Das Bewerbungsgespräch
Kriminalkommissar Knöllenbeck betrachtete die Postkarte, die in seinem Postkörbchen gelegen hatte. Das Bild zeigte einen hellen Sandstrand, einige Palmen und ein tiefblaues Meer. Knöllenbeck drehte die Postkarte um. Sie war an ihn adressiert. Der Text war sehr kurz gehalten: „Sie kriegen mich nie. Krawutke“. Knöllenbeck liess die Postkarte in den Papierkorb fallen. Josef Krawutke also. Der ehemalige Hausmeister des Kommissariats war seit der Aufdeckung seiner nächtlichen Überfälle und Jodelattacken auf alleinstehende Frauen flüchtig.
Knöllenbeck sah aus dem Fenster. Noch immer nichts. Er betrachtete seinen Papierkorb. Krawutke hatte bei seiner Flucht Jacqueline Freudenreich und ihn damals im Heizungskeller eingesperrt. Beide waren erst zwei Tage später von Petra Fitze zufällig gefunden worden. Was für eine Blamage. Und nun verhöhnte dieser Krawutke ihn auch noch. Ausgerechnet jetzt, als die Stelle eines Oberkommissars neu zu besetzen war. Knöllenbeck nahm die Postkarte aus dem Papierkorb und zerriss sie in lauter kleine Fetzen. Er blickte wieder aus dem Fenster. Und hätte beinahe verpasst, wie Kriminalrat Möller sein Auto parkte. Knöllenbeck schnappte sich den bereitgelegten Stapel Akten (alles ungelöste Fälle) und rannte zum Aufzug. Gerade noch rechtzeitig, denn sein Chef kam ihm auch schon entgegen. Knöllenbeck nickte freundlich und sagte seinen am Abend auswendig gelernten Text auf: „Guten Morgen Chef, wie geht’s Ihnen? Das hat jetzt nichts mit der Stelle als Oberkommissar zu tun, aber stellen Sie sich vor, als ich gestern um Mitternacht mit meinen unbezahlten Überstunden fertig war und noch etwas Arbeit mit nach Hause nehmen wollte, da brannte im Treppenhaus kein Licht.“ Kriminalrat Möller blieb nicht stehen, antwortete aber leicht gereizt im Vorbeigehen: „Sie haben völlig recht. Und die Heizung macht es auch nicht mehr lange. Die Toilette im zweiten Stock ist seit Wochen verstopft. Wir brauchen dringend einen neuen Hausmeister.“ Und schon war der Amtsleiter weiter. Knöllenbeck blickte seinem Chef nach. Er hatte lange an dem Text gefeilt. Aber so richtig gewirkt hatten die Worte offenbar nicht.
Es war gegen Mittag, und Knöllenbeck packte gerade seine Butterstullen auf dem Schreibtisch aus, als das Telefon klingelte. „Ach, Knöllenbeck, kommen Sie doch bitte mal in den Konferenzraum. Ich brauche Sie bei einem Bewerbungsgespräch“, hörte Knöllenbeck die Stimme seines Chefs. Er konnte sich ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen. Hatten seine Worte also doch noch den gewünschten Effekt gehabt. Knöllenbeck eilte zum Besprechungsraum, klopfte und trat ein. Der Kriminalrat war aber nicht alleine. Ein hochgewachsener und sehr muskulöser Mann erhob sich und stellte sich als Raoul Culot vor. Knöllenbeck hatte den Namen noch nie gehört. Aber mit der geübten Kombinationsgabe des erfahrenen Kriminalisten schloss er messerscharf, dass es sich nur um jemanden aus der Personalabteilung handeln könne. Bewerbungsgespräche wurden immer von zwei Personen geführt, so verlangte es die Dienstanweisung. Und schon ging es los. Der Amtsleiter stellte seine erste Frage.
Kriminalrat Möller: Kennen Sie sich mit Heizungen aus?
Raoul Culot: Bestens. Ich bin gelernter Heizungsbauer.
Knöllenbeck war verwirrt. Was hatte die Frage nach einer Heizung mit der Stelle des Oberkommissars zu tun? Und warum musste sich dieser Raoul Culot gleich wichtig machen? Dass er mal Heizungsbauer war, interessierte nun wirklich niemanden.
Kriminalrat Möller: Haben Sie schon einmal eine verstopfte Toilette repariert?
Raoul Culot: Ja, das musste ich bei meiner vorherigen Stelle ständig.
Knöllenbeck: Fallen Sie mir bitte nicht ins Wort. Bei einer verstopften Toilette stellt sich natürlich zuerst die Frage, ob es Leichenteile sind, die ein Täter auf diesem Weg entsorgen wollte. Daher empfiehlt es…
Raoul Culot: Auch das würde mir nichts ausmachen. Da muss man halt beherzt reingreifen.
Knöllenbeck: …sich, zuerst die betreffende Toilette weiträumig abzusperren und mittels Spürhunden…
Kriminalrat Möller: Danke, Knöllenbeck, das reicht. Ich brauche Sie nicht mehr. Gehen Sie zurück ins Büro. Und Sie, Herr Culot, herzlich willkommen bei uns. Sie sind eingestellt.
Epilog
Mit seinem Fitnessstudio-gestählten Oberkörper rückte der neue Hausmeister binnen kürzester Zeit in den Fokus des Interesses sämtlicher weiblicher Angestellten des Kommissariats. Die Stelle des Oberkommissars ging an einen Kollegen Knöllenbecks von der Verkehrspolizei.