Zeichen setzen
Auf seinem täglichen Weg in die Arbeit kam Roman Zerler an diesem dunklen und kalten Februarmorgen nur langsam voran. Dichtes Schneetreiben behinderte seine Sicht und die vielen Aufkleber auf der Heckscheibe seines Wagens machten es ihm auch nicht leichter, sicher durch den Verkehr zu kommen. Zwei Kleber, die seine Solidarität mit den unterdrückten Ureinwohnern Nordamerikas bekundeten, ein großer runder mit fremdartigen Schriftzeichen zur Unterstützung der Uiguren in China, diverse, die Klimathemen ansprachen und, und, und …
Aber egal, Zerler fand es wichtig, zu seinen Überzeugungen zu stehen und Zeichen zu setzen.
Doch obwohl er recht spät ins Büro kam, war er heute allein in dem kleinen Raum, sein Kollege Wagner war nicht gekommen. Und so setzte er sich an den Rechner, schob den Tischständer mit der Tibetfahne beiseite, blickte kurz noch auf das Bild von Dayo, dem nigerianischen Waisenkind, welches er monatlich bei seinem schweren Weg ins Leben mit einer Spende unterstützte und machte sich dann an die Arbeit. Aber kaum hatte er die ersten Unterlagen aufgerufen, da klopfte es auch schon an der Tür.
Frau Perczak von der Personalabteilung, die ohne auf eine Reaktion von Zerler zu warten ins Büro eintrat, war sichtlich angefasst: „Der Herr Wagner wird heute nicht kommen. Seine Frau hat einen Schlaganfall erlitten und ist gestorben. Als er gestern nach Hause kam, hat er sie tot im Wohnzimmer auf dem Boden liegend gefunden.“
Die Frau machte eine kurze Pause und fuhr dann eindringlich fort: „Ich habe heute früh mit Herrn Wagner gesprochen und bin mehr als besorgt. Der ist völlig fertig, redet schreckliche Sachen und ich habe Angst, daß der sich was antut. Sie sitzen doch seit fast zwanzig Jahren mit ihm im gleichen Büro. Können sie nicht nach der Arbeit mal kurz bei ihm vorbeifahren und mit ihm reden? Er wohnt gleich drüben in der Bumshagener Straße und es wäre schon wichtig.“
Zerler griff in die Schreibtischschublade und holte seinen Terminplaner heraus. Während er in dem Büchlein zu blättern begann, meinte er nachdenklich zur Perczak: „Ja, mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Wußten sie eigentlich, wie erschreckend hoch die Kindersterblichkeit in Bangladesch ist? Ich habe da gerade erst eine Dokumentation auf ARTE gesehen …“
Frau Perczak war erkennbar nicht zur weiteren Aufklärung über die beschämende Situation in Bangladesch aufgelegt und meinte patzig, sie habe davon keine Ahnung und es sei ihr auch scheißegal.
Entsetzt über so viel Desinteresse an den Problemen dieser Welt blätterte Zerler weiter in seinem Terminplaner und fragte dann kurz um die Situation aufzulockern noch einmal nach: „Und sie sind sicher, daß die Frau tot ist?“
Die Perczak würdigte ihn keiner Antwort.
Zerler würde an diesem Tag leider keine Zeit haben, den frischgebackenen Witwer zu besuchen, denn um 16.00h war er schon im Gewerkschaftshaus verplant. Es sollte um die Rechte Schwerbehinderter im Betrieb gehen. Ein wichtiges Thema. Morgen dann das Webinar über die klimaneutrale Zukunft des Wohnens … Zerler blätterte weiter und meinte dann:
„Also die Woche ist ganz schlecht und auch sonst habe ich einiges vor. Aber vielleicht könnte ich den Wagner am 17. kurz einschieben und …“
Ein lautes Türknallen tat kund, daß Frau Perczak das Büro überstürzt verlassen hatte. Auf dem Flur konnte mal sie vernehmlich fluchen hören und Zerler meinte, das Wort „Arschloch“ herauszuhören.
Er war derlei harsche Reaktionen auf sein intensives soziales Engagement leider schon gewohnt und seufzte leise. Er wollte in einer besseren Welt leben und arbeitete hart daran mit, diese Gestalt annehmen zu lassen. Aber manchmal war das Desinteresse seiner Umwelt schon frustrierend.