43-B4718 oder: Es geht um die Zukunft
Es war Robert Maruders erster Feindflug. In dieser Nacht im September 1943 würde der junge Pilot aus London seine tödliche Fracht über Mannheim abwerfen. Robert war furchtbar nervös, hatte Schwierigkeiten, den Bomber sauber auf Kurs zu halten und so betätigte er den Abwurfhebel dann auch viel zu früh. Seine ersten 500-Kilobomben segelten noch weit vor der Stadtgrenze vom Himmel und detonierten auf Feldern, Wiesen und zerlegten auch einen kleineren Vorort.
Maruder hatte nichts gegen Deutsche, die waren ihm im Grunde herzlich egal. Aber dieser Krieg musste gewonnen werden, er hatte seinen Auftrag und es ging um die Zukunft. Und so machten an diesem Abend 100 Luftminen, 2000 Sprengbomben, 200000 Stabbrandbomben und 30000 Phosphorbomben, abgeworfen aus einem Bomberverband mit mehr als 550 Maschinen, aus Mannheim eine Kraterlandschaft. Allerdings nicht alle.
Als Robert verfrüht den Bombenschacht geöffnet hatte, war die 500-Kilobombe mit der Seriennummer 43-B4718 auf einen Acker vor der Stadt herabgesegelt, hatte sich tief ins Erdreich gebohrt und – hatte sich als Blindgänger herausgestellt. Bauer Alois Grundmann, der Eigentümer der zukünftigen Ruhestätte der Bombe, hatte allerdings gerade ganz andere Sorgen. Er stand als Soldat in der Ukraine und befand sich mit seinen Kameraden auf dem Rückzug. Sein halbwüchsiger Sohn hatte größte Schwierigkeiten, alle Flächen des Vaters zu bewirtschaften und kümmerte sich nicht um das Feld. Und so fand 43-B4718 keine weitere Aufmerksamkeit.
Der Lebensweg von Robert Maruder endete 1992 recht abrupt mit einem völlig überraschenden Herzinfarkt. Er starb in seiner Londoner Wohnung im Alter von siebzig Jahren und hinterließ eine Witwe, zwei Söhne und drei Enkelkinder. Lange hatten ihn schreckliche Alpträume verfolgt, Nacht für Nacht hatte er sich wieder in seiner Pilotenkanzel über dem brennenden Hamburg und dem zerstörten Mannheim gesehen und die Lichtstrahlen der Flakscheinwerfer hatten sich wie Finger um seinen Hals gelegt. Das war nun vorbei. Und im selben Jahr starb auch Alois Grundmann in Deutschland mit vierundachtzig Jahren, von denen er elf in russischer Kriegsgefangenschaft verbracht hatte. Er war nur ungern Soldat gewesen, aber man hatte ihm damals gesagt, dieser Krieg müsste gewonnen werden, er habe seinen Auftrag und es ginge um die Zukunft.
Nur 43-B4718 hatte die zurückliegenden Jahrzehnte ohne größere Blessuren überstanden. Allein am Säurezünder des Blindgängers hatte der Zahn der Zeit genagt und der hatte angefangen zu korrodieren. Immerhin hatte die Bombe jetzt ein warmes Plätzchen, denn zu Beginn der siebziger Jahre war der längst aufgegebene Acker der Familie Grundmann zum Bauland erklärt worden und so hatten die Besitzer einen hübschen, kleinen Bungalow genau über dem explosiven Andenken Maruders errichtet, in dem man sich gerne einmal mit Freunden traf und ein Gläschen trank.
Im Februar 2023 war wieder eine solche Gelegenheit, denn Benjamin Grundmann hatte im Urlaub in Guatemala in einem exklusiven Resort eine entzückende junge Britin kennengelernt, sich Hals über Kopf verliebt und wollte die Verlobung mit seiner Zukünftigen im Kreise der Familie feiern. Maud Maruder studierte in London Grafikdesign, war ausnehmend hübsch und erkennbar genau so verschossen in Benjamin wie der in sie. Nur die aktuellen Fernsehnachrichten störten ein wenig die Heiterkeit der ausgelassenen Runde, die sich im Bungalow versammelt hatte. Im Donbass hatte es wieder heftige Kämpfe um die Stadt Bachmut gegeben und obwohl niemand etwas gegen Russen hatte, ihnen die im Grunde herzlich egal waren, so waren sich doch alle Anwesenden darin einig, daß nur die rasche Lieferung weiterer Waffen der Ukraine den ersehnten Frieden bringen konnte. Dieser Krieg musste gewonnen werden, Europa hatte seinen Auftrag und es ging um die Zukunft.
In dieser Nacht hat sich die Säure nach dessen jahrzehntelangem Korrosionsprozess zum Zündmechanismus von 43-B4718 durchgefressen. Die Detonation der Fliegerbombe war bis ins Zentrum von Mannheim zu hören und der Bungalow der Familie Grundmann wurde in einem riesigen Feuerball vollständig zu Schutt und Asche verwandelt. Die Leichen der Anwesenden waren nur noch schwer zu identifizieren. Maud Maruder, der Urenkelin des Piloten der Maschine, die 43-B4718 achtzig Jahre zuvor abgeworfen hatte, konnten die Behörden nur noch eine Hand und ein Bein zuordnen.
Unnötig zu sagen, daß das kein satirischer Text ist. Und wer die richtige literarische Gattung erkennt, der kann sich in der Redaktion so viele 500-Kilobombe abholen, wie er tragen kann. Es geht um die Zukunft.