Das Fischerboot
Die Jukebox der schäbigen Spelunke in der Kasbah von Algier spielte noch immer „Non, je ne regrette rien“ von Edith Piaf. Henri Leclercq hatte die üble Gestalt, die vor wenigen Augenblicken das Lokal betreten hatte, als seinen Kontaktmann bei der OAS erkannt. Die Untergrundorganisation führte einen erbitterten Kampf für den Verbleib Algeriens als französisches Territorium. Der Fremde hatte sich zu Leclercq an den Tisch gesetzt. Beide Männer schauten sich zunächst misstrauisch an.
„Gut, dass Sie es geschafft haben“, wandte sich der Unbekannte schliesslich an Leclercq. „Gab‘s keine Probleme mit den Barbouzes?“
„Mit wem?“, fragte Leclercq.
„Ganz üble Kerle. De Gaulle hetzt uns eine Killertruppe auf den Hals. Offiziell arbeiten sie auf eigene Faust. Aber wir wissen, dass sie vom Geheimdienst mit Informationen und von der Sécurité militaire mit Waffen und Sprengstoff versorgt werden.“
Eine Pause entstand. Beide Männer schauten sich lange an. Schliesslich fragte der Fremde:
„Wo ist es?“
„In einer Holzkiste“, antwortete Leclercq.
„Wo?“
„Auf einem Lieferwagen am Hafen.“
„Wo genau?“
„Am Bassin de l‘Agha.“
„Gut. Wir treffen uns dort um Mitternacht“, sagte der Unbekannte, stand auf und ging.
Einige Stunden später standen Henri Leclercq und der Mann von der OAS an einem dunklen und verlassenen Kai am Hafen von Algier. Eine halbverrostete Strassenlaterne warf ein schwaches Licht auf die Lagerhäuser. Eine Ratte huschte die Kaimauer entlang. Ansonsten rührte sich hier nichts. Mehrere Männer hatten die Holzkiste mit der in Reggane gestohlenen Atombombe entgegengenommen und verluden sie jetzt vorsichtig auf ein kleines und unauffälliges Fischerboot. Leclercq konnte ihre Nationalität nur schlecht einschätzen, tippte aber auf Südafrika. Das Boot hatte keine Positionslichter gesetzt und glänzte auch sonst durch das Fehlen jeder Lichtquelle. Die Männer hoben die Holzkiste behutsam unter Deck.
Nach wenigen Minuten erschienen einer von ihnen wieder und wandte sich in perfektem, aber von einem starken Akzent eingefärbten Französisch an den Mann von der OAS.
„Merci. Die Überweisung auf das Schweizer Nummernkonto ist veranlasst. Au revoir.“
„Bonne Chance“, antwortete der Franzose.
Die Männer lösten die Leinen und im Fischerboot startete ein Dieselmotor. Der Maschinenraum muss gut isoliert sein, dachte Leclercq, denn man hörte den Motor kaum. Das Boot entfernte sich langsam von der Kaimauer.
„Was geschieht nun mit der Bombe?“ fragte Leclercq.
„Nur fünf Länder haben Atombomben. Aber es gibt viele Länder, die auch eine haben möchten. Und einige von denen zahlen gut. Seit die Barbouzes uns unter Druck setzen, können wir jeden Franc gebrauchen“, antwortete der OAS-Offizier.
Beide Männer sahen dem Boot hinterher, wie es langsam aus dem Hafen glitt und Kurs aus die offene See nahm. Der Fremde drehte sich zu Leclercq um.
„Wollen Sie bei uns mitmachen?“ fragte er.
„Ich dachte schon, Sie würden mich nie fragen“, antwortete Leclercq.
Der Mann streckte die Hand aus. Leclercq schüttete sie kurz und kräftig.
„Willkommen bei der OAS“, sagte der Fremde.
Epilog
Südafrika war zeitweise im Besitz von bis zu sechs Atombomben. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass das Land diese selbst entwickeln konnte. Wie Südafrika an die Technologie für Atombomben kam, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Meist wird eine geheime Kooperation mit Israel vermutet. Das Ende des Konflikts mit Angola im Jahr 1988 und der Abzug der kubanischen Soldaten verbesserte die gefühlte Bedrohungslage für Südafrika erheblich und das Land demontierte seine Atomwaffen 1991.
Lesen Sie irgendwann die Fortsetzung im nächsten Teil „Der Sandhaufen“.