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Fachkräfte-Lockrufe der Alpen – Wo Work-Life-Balance zur Work-Work-Balance mutiert

Veröffentlicht von Sly Winter am

Die Schneekanonen laufen auf Hochtouren, die Pisten sind frisch präpariert, und die Ski-Gebiete bereiten sich auf den großen Ansturm vor. Ein Problem trübt die weiße Pracht jedoch: Wo sind die Mitarbeiter? 

Die Suche nach Saisonkräften gestaltet sich dramatischer als die letzte Abfahrt eines Anfängers. Doch anstatt das Offensichtliche zu ändern, locken die Hoteliers und Liftbetreiber nun mit Benefits, die in ihrer Absurdität kaum zu überbieten sind.
Der kostenlose Obstkorb
Im Zentrum der Fachkräfte-Offensive steht der legendäre „Kostenlose Obstkorb“. Ja, richtig gehört. Während der durchschnittliche Tellerwäscher in der Küche 70 Stunden pro Woche rackert, verspricht das Management stolz: „Einmal wöchentlich steht ein Korb mit saisonfrischem Obst bereit!“
Die Vorstellung, wie eine völlig übermüdete Servicekraft, die seit 14 Stunden keinen Stuhl gesehen hat, mit leuchtenden Augen nach einem überreifen Apfel greift, ist herzzerreißend.
Viele Inserate werben auch mit „Gratis Mineralwasser im Personalraum“. Da kann man doch nicht Nein sagen!
Fairer geht’s nicht: „Zahlung nach Tarif“  
Ein Job für Idealisten! Eine weitere, fast schon provokante Phrase, die sich durch die Jobportale zieht, ist die Zusage: „Die Bezahlung erfolgt nach Kollektivvertrag.“ Dies wird nicht etwa als Mindestanforderung, sondern als Bonus verkauft. Wer erwartet hätte, dass harte Arbeit in einer der teuersten Regionen Europas mit einem Gehalt über dem gesetzlichen Minimum honoriert wird, muss enttäuscht werden. Nein, wir garantieren das gesetzliche Minimum! Ein klarer Appell an alle Idealisten, die ihren Beruf aus purer Liebe zur Gastronomie ausüben. Geld spielt ja bekanntlich nur eine Nebenrolle.
Das Überstunden-Paradies
Die Stellenausschreibungen versprechen oft „flexible Arbeitszeiten“. Was damit wirklich gemeint ist, ist die Flexibilität des Arbeitgebers, die Mitarbeiter 6 oder 7 Tage am Stück in den Dienstplan zu quetschen. Unmengen an Überstunden sind nicht die Ausnahme, sondern der Standard.
Dank der kollektivvertraglichen Zahlung werden diese Überstunden oft mit einem müden Händedruck oder einem weiteren Apfel aus dem Korb abgegolten.

Da macht Arbeit richtig Spaß

Besonders skurril ist die Anforderung an die zeitliche Verfügbarkeit:
– mindestens 6- bis 7-Tage-Woche (wenn möglich mehr)
Dienstübernahme bei Krankheiten:
– ein spontaner Zwölf-Stunden-Shift, weil der Kollege mit Fieber im Bett liegt? Das ist die gelebte „Alpen-Kameradschaft“!
Urlaubsanspruch:
– wird nach Saisonende gerne auf die lange Bank geschoben.
Das größte Versprechen der Branche ist die propagierte „Work-Work-Balance“. Man verbringt so viel Zeit in der Arbeit, dass das gesamte soziale Leben, die Hobbys und die Erholung nahtlos in den Betrieb integriert werden. Die Ski-Hütte wird zum Zuhause, die Kollegen zur Ersatzfamilie (inklusive aller Konflikte) und die tägliche Bergfahrt zur Meditation.
Einige Betriebe gehen noch weiter und bieten als ultimativen Benefit an:
– Mitarbeiter-Essen! Ein „leckeres“ Mittagsgericht, oft die Reste vom Buffet, das man in 5 Minuten verschlingen muss.
Modern ausgestattetes Personalzimmer:
– ein winziges Loch, das man sich mit mindestens einem weiteren armen Tropf teilt. Wenn möglich direkt am Arbeitsplatz, um an eventuellen freien Tagen 24 Stunden abrufbereit zu sein.
Die österreichischen Ski-Gebiete suchen händeringend Personal, aber sie scheinen zu glauben, dass ein Apfel und die vage Aussicht auf eine Gehaltserhöhung in der übernächsten Saison ausreichen, um die junge Generation zu begeistern. Solange die Branche nicht aufhört, „Zahlung nach Tarif“ als Alleinstellungsmerkmal zu bewerben und die Work-Work-Balance nicht durch echte Erholung ersetzt, wird der Obstkorb wohl die einzige Konstante in der Arbeitswelt bleiben.
Wer braucht schon Freizeit, wenn man dafür einen leicht braunen Apfel geschenkt bekommt?
Kategorien: Gesellschaft