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Vom Ende einer Karriere

Veröffentlicht von El Blindo am

Norberts Mutti hatte sein weißes Hemd frisch gebügelt und eine dezente Krawatte lag schon über dem Stuhl in seinem Zimmer bereit. Während er sich beim Anziehen im Spiegel betrachtete, bewunderte er nicht nur die scharfen, klaren Kanten der Bügelfalten, sondern dachte noch einmal über den kommenden Abend nach, der seiner Karriere bei der „Jungen Union Markscheids“ einen ordentlichen Kick geben sollte. Ein lebendiger Landtagsabgeordneter der Mutterpartei würde heute ein Referat über ein aktuelles Thema halten und Norbert würde moderieren. Kein unwesentlicher Tag also auf dem Weg eines Siebzehnjährigen hin zum Erfolg. Er ahnte noch nicht, daß er am Ende dieses Abends keinerlei politische Zukunft mehr haben würde.

Norberts Herz schlug höher, als er (mit gehöriger Verspätung) das sehr gut gefüllte Nebenzimmer in der „Herberge zur guten Heimat“ betrat. Alle waren gekommen, viele Gäste hatten den Weg zum Treffen der Jungen Union gefunden und der Herr Abgeordnete war auch schon da. Er gab dem Mann die Hand und machte dabei einen ordentlichen Diener, wie es ihm seine Mutti beigebracht hatte. Er erkundigte sich artig nach dem Thema der geplanten Ansprache und der noch mit seinem ersten Bier beschäftigte Volksvertreter murmelte irgendwas von ‚Telegram‘ in seinen gepflegten Bart hinein.

Norbert hatte sofort verstanden. Telegram, daß war doch dieser absolut bedenkliche Messengerdienst, mit dem sich Coronaleugner und andere gefährliche Leute vernetzten und der nach dem Willen mancher Verantwortungsträger besser heute als morgen abgeschaltet werden sollte. Halblaut murmelte Norbert vor sich her: „Telegram sollte sofort verboten werden!“. Das hatten einige der Anwesenden im Raum vernommen, es wurde umgehend stiller und jetzt hielt er den Zeitpunkt für gekommen, dem Redner schon mal etwas vorzugreifen und die Stimme leicht zu erheben:

„Den Messengerdienst Telegram halte ich für mehr als nur problematisch. Da vernetzen sich Staatsfeinde, die kein Mensch bei klarem Verstande unterstützen kann. Da werden Zusammenrottungen organisiert, gegen die mit aller Härte und vollem Einsatz der Polizei vorgegangen werden muß!“

Nicht jede App macht das Leben leichter

Im Raum war es jetzt ganz still geworden und alle Augen waren auf Norbert gerichtet. Der interpretierte die entstandene Ruhe bedauerlicherweise falsch. Was er für gespannte Aufmerksamkeit hielt, war nämlich in Wahrheit fassungsloses Entsetzen. Wäre er nur frühzeitig gekommen, dann hätte er sicher auch das genaue Thema des Abends mitbekommen. So aber fuhr er fort:

„Aber zum Glück für die Menschen gibt es ja eine Polizei. Und die soll ruhig mal ordentlich zupacken. Wenn nicht pariert und wenn Widerstand geleistet wird, dann Knüppel raus und die Ordnung auch mal robust durchsetzen, ha, ha. Gib ihm und dann vergesst nicht, daß es ja auch noch Wasserwerfer gibt! Die wollen es doch gar nicht anders!“

Im Nebenzimmer der „Herberge zur guten Heimat“ hätte man jetzt eine Stecknadel fallen hören können. Der Herr Landtagsabgeordnete erhob sich langsam und begann dann seine Ausführungen: „Meine lieben jungen Freunde! Liebe Gäste unserer Jungen Union! Mein heutiges Thema ist ein weltpolitisches. Es geht um die Vernetzung der Opposition in Belarus gegen den Diktator Lukaschenko mit Hilfe neuer Kommunikationsmittel wie dem Messengerdienst Telegram. Was können wir dazu beitragen, diesem furchtbaren Regime die Stirn zu bieten …“

Norbert hörte schon nicht mehr richtig zu. Der vernichtende Blick des Abgeordneten war ihm allerdings nicht entgangen. Er wäre gerne unter den Stuhl gekrochen und darunter auch nie wieder hervorgekommen. Doch leider war er wie gelähmt. Was für ein schrecklicher Irrtum! Zur nächsten Versammlung der Jungen Union Markscheids war er dann schon nicht mehr eingeladen.