Miss Marmoppel und das alte Kirchenfenster
Miss Marmoppel stellte die Tüte mit den beiden Gläsern Lavendelhonig in den Gang und setzte sich auf die harte Holzbank der Kapelle. Der mordendende Mietmönch, dem die Bienenstöcke am Rand der Lavendelfelder des Klosters Markscheid gehörten, war seit dem blutigen Massaker spurlos verschwunden. Die Mönche hatten sich der verwaisten Bienen angenommen und verkauften weiterhin den vorzüglichen Honig. Miss Marmoppel war eine ihrer besten Kunden. Nach dem Einkauf setzte sie sich oftmals in die kleine Klosterkapelle und betrachtete die mittelalterlichen Kirchenfenster. Das entspannte sie. Als eines der Honiggläser umkippte und sie sich bückte, um es wieder aufzurichten, bemerkte sie zum ersten Mal ein sehr kleines Fenster, das eigenartigerweise nur in gebückter Körperhaltung zu sehen war.
Das Kirchenfenster zeigte eine Frau, die auf ein junges Paar und ein Neugeborenes hinab schaute. Miss Marmoppel vermutete zuerst, die Szene stellte die Geburt Jesu dar, das junge Paar wäre demnach Maria und Josef im Hirtenstall. Aber die Frau, im oberen Teil des Fensters? Die Frau, die auf die Szene hinab blickte? Hätte ein Künstler im Mittelalter tatsächlich Gott als Frau dargestellt? Miss Marmoppel hielt das für äusserst unwahrscheinlich. Mit dem Fenster musste es eine ganz andere Bewandtnis haben. Der kriminalistische Instinkt von Miss Marmoppel war geweckt.
In diesem Augenblick betrat Bruder Ambrosius die Kapelle. Miss Marmoppel kannte ihn noch gut aus der Nacht des Massakers. Nach kurzer Begrüssung fragte Miss Marmoppel direkt nach dem eigenartigen Bild auf dem eben entdeckten Fenster.
„Ja, damit habe ich mich auch schon oft beschäftigt. In unserer Klosterbibliothek bin ich dann auf ein interessantes Pergament gestossen, dass unsere Brüder in der Zeit des Mittelalters beschriftet hatten. Darin ist von einem Söldner die Rede, der sich in der Nähe von Markscheid herumtrieb und für seine persönlichen Rachefeldzüge berüchtigt war. So hat er wohl den Mörder seiner Ehefrau gemeuchelt. Und unzählige Andere. Ursprünglich soll er aus der Gegend von Ullreuth stammen…“
„Nie gehört“, meinte Miss Marmoppel.
„Hab auch keine Ahnung, wo das liegt. Jedenfalls blieb dieser Söldner, den man den fleckigen Rigobert nannte, über viele Jahre in der Nähe von Markscheid. Lange nach seinem Tod heiratete seine Tochter und brachte ein Kind zur Welt. Das ist es, was auf dem Fenster zu sehen ist. Es ist so eine Art Foto aus dem Familienalbum. Die junge Familie mit dem Neugeborenen.“
Miss Marmoppel studierte das Kirchenfenster genau. „Verstehe ich nicht. Warum ist in einer Kapelle in Markscheid eine Familie aus Ullreuth abgebildet? Und wer ist diese Frau, dort oben im Bild?“
Bruder Ambrosius überlegte. „Wenn ich das Pergament richtig deute, dann hat der fleckige Rigobert erneut geheiratet. Ich nehme an, dass das auf dem Fenster seine zweite Ehefrau sein soll, gemeinsam mit ihrer Tochter, dem Schwiegersohn und dem Enkel.“
Miss Marmoppel war überrascht: „Äh…, Moment. Was sagten Sie eben? Eine zweite Ehefrau des fleckigen Rigobert?“
„Ja, anscheinend hat er erneut geheiratet. Eine Frau aus Markscheid. Im Pergament wird sie als charmante Xanthippia bezeichnet.“
Miss Marmoppel war ganz aus dem Häuschen: „Sie meinen, dieses Fenster stellt die Vorfahren einer Familie aus Markscheid dar? Dann müssten deren Nachkommen doch noch leben! Was wäre das für ein grosses Ding, wenn eine markscheider Familie erfährt, dass einer ihrer Vorfahren ein Söldner war und sie auf diesem Kirchenfenster sogar die eigenen Vorfahren sehen könnte!“
Bruder Ambrosius schüttelte traurig den Kopf. „Glaube nicht, dass es noch lebende Nachkommen des fleckigen Rigoberts gibt.“
Miss Marmoppel war enttäuscht. „Warum denn nicht?“
„Nun, damals begann man in Markscheid erst damit, so etwas wie Familiennamen einzuführen. Diese bestanden dann meistens aus den zusammengefügten Initialen der Eltern. Nehmen Sie mal unseren Schrotthändler hier in Markscheid. Seine Vorfahren waren der kluge Ingobert und die resolute Katharina. Man hat damals einfach die Anfangsbuchstaben von Vater und Mutter zusammengeführt und so entstand der Familienname Kirk.“
Miss Marmoppel überlegte. „Hmmm… bei dem fleckigen Rigobert und der charmanten Xanthippia wäre das… Aber da kommt doch nur ein unaussprechlicher Buchstabensalat heraus!“
„Ja, leider“, erwiderte Bruder Ambrosius. „Und ich kenne niemanden in Markscheid, der auch nur so ähnlich heisst.“
Miss Marmoppel senkte den Kopf. „Schade.“
„Ja. Schade“, pflichtete Bruder Ambrosius bei.
Am selben Abend löschte im Klitorisweg die Besitzerin der „Kristallkugel“ das Licht und legte sich schlafen. Sie überlegte, ob sie wieder einen dieser seltsamen Träume haben würde. Träume von blitzenden Klingen, mittelalterlichen Schlachten und erstochenen Feinden. Sie hatte oft solche Träume, und sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Es waren Träume, deren Bedeutung sie nicht verstand und deren Herkunft ihr schleierhaft blieb.