Die letzte Fahrt der ‚Markscheid‘ / Teil 3
Im Herbst des Jahres 1897 strandete die ‚Markscheid‘ vor der englischen Küste. Das von der Mannschaft verlassene Schiff war nur noch ein Wrack. Seit damals wird über die letzte Fahrt der ‚Markscheid‘ gerätselt. Was mag da an Bord geschehen sein?
Jetzt ist ein Brief von Benjamin Crohn, dem Reeder, Schiffseigner und Teilnehmer der legendären letzten Fahrt der ‚Markscheid‘ aus Tripolis an seine Frau Hiltrud aufgetaucht, aus dem wir hier weiter zitieren wollen:
„Es wird Dich wohl nicht mehr überraschen, geliebtes Eheweib, wenn ich Dir schreibe, daß uns das furchtbare Wetter, welches uns durch das gesamte Schwarze Meer verfolgt hat, mit seinen heftigen Stürmen und Unwettern auch im Mittelmeer treu bleiben sollte. Und natürlich musste dies auch Folgen für die bisher so tadellose Moral der Mannschaft unseres Schiffes haben.
Wir hatten gerade Kreta passiert, als es zu einem ersten ernsthaften Zwischenfall kam. Ich stand in der Nacht bei schwerer See an der Reeling, als unser rumänischer Steuermann Maxim Netruscu unvermittelt zu mir herantrat und mir wieder einen seiner inzwischen schon üblichen Vorträge voller abergläubischem Blödsinn hielt. Er habe angeblich mal wieder Kratzgeräusche aus einer der Kisten im Lagerraum gehört, nur die blutroten Siegel würden uns noch schützen, ein schrecklicher Fluch liege über unserem Schiff und für dessen Urheber, den wir angeblich mit an Bord hätten, gebe es auch einen Namen. Den habe ich leider nicht richtig verstanden, aber es klang für mich wie: „Dragiza“.
Nun kenne ich mich mit dieser offensichtlich in Rumänien weit verbreiteten Geschlechtskrankheit natürlich nicht aus, habe Netruscu aber unmißverständlich klar gemacht, daß für sowas wie Dragiza auf meinem Schiff kein Platz ist. Er war daraufhin ganz außer sich und um den Mann wieder zur Vernunft zu bringen, habe ich ihm einen kleinen Stoß versetzt. Gut, vielleicht habe ich auch einmal kurz zugetreten, aber ich bestehe eben auf Disziplin. Netruscu ist dann unglücklich ins Wasser gestürzt und wart nicht mehr gesehen.
Du wirst Dir vorstellen können, wie leid mir der Vorfall tat, aber es gibt eben drei Dinge, die ich auf dieser Welt liebe: Dich, unseren Kaiser und unsere Reederei. Und mit seinem dummen Geschwätz hat der Mann letztere, zumindest aber die ‚Markscheid‘ doch schwer gefährdet.
Das Verschwinden des Steuermanns konnte natürlich nicht unbemerkt bleiben. Nur zwei Tage später stand ich am späten Abend wieder an der Reeling, und diesmal war es ein junger polnischer Matrose, der mir unbedingt sein Leid klagen wollte.
In der Nacht, in der Netruscu abgetaucht ist (ha, ha, abgetaucht, liebe Hiltrud!), habe er diesen im Gespräch mit einer unheimlichen Gestalt gesehen. Die habe ihn erst geschlagen, dann getreten und schließlich über Bord befördert. Das unheimliche Wesen habe ihm große Angst gemacht, deswegen habe er auch bisher geschwiegen und es habe einen dunklen Umhang mit breitem, hochgestellten Kragen getragen, ganz ähnlich übrigens wie meinem.
Noch so ein Irrer, der überall Gespenster sieht! Da mußte ich doch nun sofort handeln und das habe ich auch getan …
Nach diesen ersten beiden habe ich noch fünf weitere Problemfälle unter der Mannschaft gelöst. Nicht immer ist es mir leicht gefallen (selbst ein schlechter Schiffskoch ist ja heutzutage nur schwer anzuheuern), aber das Geraune und Gemurmel unter der restlichen Besatzung ist jetzt schon merklich leiser geworden. Und manchmal ist mir gar so, als riefe eine Stimme tief aus den Bauch des Schiffes: „Tu es, tu es für uns alle!“
Und dann tue ich, was eben getan werden muß.“
Wird fortgesetzt …