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Intermezzo in Cortina d‘ Ampezzo

Veröffentlicht von frcx am

Miss Marmoppel zog die Vorhänge ihres Hotelzimmers beiseite und bewunderte die Aussicht auf die schneebedeckten Dolomiten. Luigi, ihr persönlicher Skilehrer, wartete schon an der Schirmbar auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Wobei „Warten“ nicht der richtige Ausdruck war. Um genau zu sein, flirtete er heftig mit zwei dänischen Touristinnen. Miss Marmoppel zog den Reissverschluss ihres Skianzugs hoch, schlüpfte in die schweren Skistiefel und beschloss dem Treiben Luigis ein Ende zu bereiten. Ein persönlicher Skilehrer war nicht gerade billig, schon gar nicht, wenn man ihn für die ganze Woche gebucht hatte. Und Miss Marmoppel dachte nicht daran, auch nur eine Sekunde der teuer bezahlten Zeit zu verschenken.

Eigentlich war Miss Marmoppel keine schlechte Skiläuferin. Und einen Skilehrer brauchte sie nicht wirklich. Aber es war doch viel schöner, sich von einem Einheimischen die besten Abfahrten und Jause-Hütten zeigen zu lassen. Besonders, wenn dieser Einheimische so gut aussah wie Luigi. Gerade fuhren die beiden durch ein kleines, tief verschneites Waldstück. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den glitzernden Schneeflocken auf den Tannen. Die Luft war klar und man roch schon das Holzfeuer der nahen Hütte, in der Luigi beschlossen hatte, einzukehren. Kurzum, es war einfach romantisch.

Plötzlich schoss ein komplett schwarz gekleideter Skifahrer ohne jede Vorwarnung an ihnen vorbei. Um ein Haar hätte er Miss Marmoppel über den Haufen gefahren. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke, bevor der rücksichtslose Rüpel die Piste weiter Richtung Tal hinab rauschte. Während Luigi die Faust in die Höhe reckte und dem Unbekannten eine Tirade italienischer Schimpfworte hinterher rief, überlegte Miss Marmoppel, wo sie diese kalt blitzenden Augen schon einmal gesehen hatte.

Skiläufer sollten die Gefahr durch kalt blitzende Augen nicht unterschätzen

Rocco konnte es kaum fassen. Diese Alte, die da mitten auf der Piste scheinbar Wurzeln geschlagen hatte, und mit der er fast zusammengestossen war, er hatte sie wiedererkannt! Es war die Alte, die ihm damals die Waffe entwendet hatte! In diesem gottverlassenen Altenstift am Ende der Welt hatte er Rob den Singvogel ausknipsen sollen, als ihm diese Alte in die Quere gekommen war. Rocco konnte sich noch gut an die Begebenheit auf dem Flur des Heims erinnern. Aber was machte die Alte hier, in Cortina d‘ Ampezzo? Und ausgerechnet heute, wo doch der grosse Coup steigen sollte? Rocco spürte ein leichtes Unbehagen. Was wusste die Alte? War der Plan verraten worden? Rocco war ein Profi. Nichts konnte ihn verunsichern. Oder doch? Rocco war zutiefst erstaunt, als er etwas fühlte, das er zutreffend als einen Anflug von Angst erkannte.

Kaum im Tal angekommen, suchte sich Rocco eine abgelegene Telefonzelle (als Profi nutzte er prinzipiell nur Telefonzellen) und rief seine Auftraggeber in New York an. Sicher, nach seinem Ausstieg würden sie die ganze Sache abblasen müssen. So kurzfristig würden sie niemanden auftreiben, der sich mit diesem Typ Alarmanlage auskannte. Oder der den Safe in der Suite der Prinzessin in weniger als eine Minute öffnen konnte. Die Gelegenheit, an das berühmte Diamanten-Diadem heranzukommen war einmalig. Eine zweite Chance würde es nicht geben. Aber die Alte! Die war doch nicht zufällig hier, oder? Rocco glaubte nicht an Zufälle. Das Risiko war zu gross geworden. Die versprochenen Neunzigtausend, sie waren es einfach nicht Wert. Rocco wusste, nach diesem Anruf würde er nie wieder einen Auftrag erhalten. Schon gar nicht einen so lukrativen. Aber Rocco war ein Profi. Und Profis wissen, wann es Zeit ist, auszusteigen.

Am Sonntag, nach gefühlt niemals endenden Tagen, verstaute Miss Marmoppel den Skianzug und packte ihren Reisekoffer. Die Begegnung mit dem Pisten-Rüpel hatte sie längst vergessen. Dazu hatte auch Luigi beigetragen, der sich am Abend und des Nachts als ausgezeichnete Wahl für einen Urlaub voll adrenalin-sprühender Erlebnisse und wollüstiger Höhepunkte erwiesen hatte. Die Welt der kleinen und grossen Ganoven, sie war auch mal eine Woche ohne Miss Marmoppel ausgekommen.