Langsam öffnete er den Verschluss, dann spreizte er Deckel und Becher vorsichtig auseinander. Immer tiefer glitt er mit dem Löffel hinein, bis er ganz darin versunken war. Er drehte und rührte unaufhörlich. Mit der Hand drückte er den Becher fest und fester, bis die weiße Masse plötzlich hinaus spritze.
Der Steward an Bord der Pride of Markscheid wußte schon, wie man einen Jogurt zum Frühstuck formvollendet servierte, bemerkte Knöllenbeck zu seiner Zufriedenheit. Lange hatte er von seiner Besoldung als Kriminalkommissar für die Kreuzfahrt gespart und freute sich nun, endlich zu den wenigen Markscheidern zu gehören, die den Äquator überquert haben. Das Leben an Bord der Pride of Markscheid war gut durchdacht, stellte er fest. Gleich morgens um 4 Uhr öffnete die Sailors Lounge zum Early Breakfast, um 6 Uhr begann dann das eigentliche Frühstücks-Buffett in der Captain’s Mess Hall, um 10 Uhr folgte ein Brunch und ab 12 dann das achtgängige Mittagessen. Schon um 14 Uhr gab es einen kleinen Snack, der den Passagieren an die Liegen beim Pool gebracht wurde, ab 16 Uhr traf man sich zu Kaffee und Kuchen, der nahtlos in das Afternoon Supper überging, während man schon auf das Captain’s Dinner wartete, das pünktlich um 18 Uhr begann und meist bis 22 Uhr dauerte. Anschließend schlenderte man in die Bar, wo noch ein Late Brunch angeboten wurde. Den Rest des Abends verbrachte Knöllenbeck gewöhnlich damit, die Erdnüsse aus der Bar zu knabbern, bevor endlich um um 24 Uhr die Midnight Snack Table aufgebaut wurde. Zurück in seiner Kabine ließ sich Knöllenbeck meistens gegen 2 Uhr noch einen Cesar’s Salat mit extra Parmesan bringen, schließlich achtete er auf ausgewogene Ernährung.
Aber auch für ausreichend Lektüre war gesorgt. Täglich wurden in der bordeigenen Druckerei sämtliche deutschsprachigen Tageszeitungen nachgedruckt. Knöllenbeck stopfte sich ein dick mit Butter bestrichenes Laugen-Croissant in den Mund und griff zur neuesten Ausgabe der Markscheid am Mittwoch. Knöllenbeck las den Aufmacher:
Ronaldo wechselt zum FC Markscheid
Für hundert Millionen Euro Ablöse wechselt Superstar Ronaldo zum FC Markscheid, wie eine strahlende Bürgermeisterin Crohn-Corque heute bei einer Pressekonferenz im Vereinshaus unseres Fußball-Kreisligisten bekannt gab.
„Herr Knöllenbeck?“ Der Steward stand neben ihm.
Knöllenbeck winkte ab und las weiter. Es war ein sehr ausführlicher Artikel, der von einer Foto-Strecke flankiert war. Ronaldo am Flugplatz. Ronaldo im Rathaus. Ronaldo mit Crohn-Corque. Ronaldo in einer Pizzeria. Ronaldo übergibt sich in ein Gebüsch.
„Ähem…“ Wieder dieser lästige Steward.
Knöllenbeck machte Zeichen, er solle verschwinden und widmete sich wieder seiner Lektüre. Es gab sogar ein Interview mit Toni Döpfler, dem Trainer des FC Markscheid:
Reporter: Wird Ronaldo beim Kreisliga-Derby gegen den SV Bumshagen bereits antreten?
Döpfler: Ja.
Reporter: Rechter oder linker Flügel?
Döpfler: Weder noch. Er wird für den derzeit erkrankten Thilo Steinhuber im Tor stehen.
Reporter: Das ist aber nicht Ronaldos eigentliche Stärke?
Döpfler: Nur wegen eines Neuzugangs stelle ich doch nicht die ganze Mannschaft um.
Hinter der Postkartenidylle einer Kreuzfahrt steckt mitunter das pure Grauen
Ein lautes Räuspern riss Knöllenbeck aus seinen Gedanken. Schon wieder dieser Steward.
„Was wollen Sie denn noch? Sehen Sie nicht dass ich lese!“, herrschte ihn Knöllenbeck an.
Der Steward beugte sich zu ihm herunter.
„Sie sind doch von der Polizei, oder? Sehen Sie die Dame dort drüben?“, fragte er und zeigte unauffällig auf eine dickliche Endfünfzigerin, die sich gerade am Buffett mehrere Schichten Schinken auf den Teller schaufelte.
“Ich glaube, die Dame hat dem Herrn im dunklen Poloshirt gerade die Brieftasche geklaut.”
Knöllenbeck war sofort hellwach. Ein Verbrechen, hier auf hoher See? Und nur er als einzig verfügbarer Kriminalist an Bord? Er verschluckte sich am Laugen-Croissant und musste heftig husten.
Nach dem Frühstück folgte Knöllenbeck der Endfünfzigerin wie ein Schatten. Zuerst ging sie scheinbar ziellos auf dem Sonnendeck umher. Doch dann steuerte sie zielstrebig den Pool an. Sie ging in die Damen-Umkleide und zwängte sich in einen für sie viel zu engen orange-pinkfarbenen Badeanzug. Knöllenbeck beobachtete, wie die Verdächtige sich sehr verdächtig umsah, bevor sie etwas verdächtig schnell in den Spind steckte. War es die gestohlene Brieftasche? Danach ging sie zum Pool und planschte fröhlich im Wasser. Knöllenbeck wußte: Das war die Gelegenheit. Würde er im Spind noch auf weitere gestohlene Brieftaschen stoßen? Leise schlich er in die verlassene Damen-Umkleide und machte sich am Spind zu schaffen. Binnen weniger Sekunden hatte er ihn geöffnet und durchsuchte die Kleidungsstücke. Gerade hielt er ihren BH gegen das Licht, als eine schwere Männerhand hart auf seine Schulter nieder krachte. Er wurde unsanft umgedreht. Zwei sehr kräftige bärtige Matrosen standen vor ihm und starrten ihn feindselig an.
„Da ist ja der gemeldete Perverse!“, zischte ihn der Erste an.
„Auf frischer Tat! Perverses Schwein!“, spuckte ihm der Zweite ins Gesicht.
Knöllenbeck protestierte. Doch die beiden zerrten Knöllenbeck bereits gewaltsam aus der Damen-Umkleide und schleiften ihn rüber zur Reling.
„Auf der Bounty hatten die damals auch ’nen Perversen als Kapitän!“, zischte der Erste.
„Der konnte nicht schwimmen und ging unter wie Bligh!“, spuckte der Zweite.
Noch bevor Knöllenbeck überhaupt begriff, was vor sich ging, hatten ihn die beiden schon hochgehoben und mit einem kräftigen Stoß über die Reling geworfen. Zum Ufer waren es nur 20 Kilometer.
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