Knöllenbeck und der geheimnisvolle Kilometer
Knöllenbeck runzelte die Stirn, betätigte vorschriftsgemäß den Blinker vor dem Abbiegen und nicht wie der blaue VW Golf vor ihm, der den Blinker erst gesetzt hatte, als er schon fast abgebogen war (das Nummernschild hat sich Knöllenbeck natürlich gemerkt und wird diesen Fall zur Anzeige bringen, sobald er den aktuellen Fall und das Phänomen, auf das er soeben gestoßen war, aufgeklärt hat) und fuhr auf den Parkplatz. Er musste nachdenken.
Es hatte damit angefangen, dass er, während er gerade exakt 60 Grad heißes Wasser in seine Teetasse goss, durch einen Telefonanruf gestört wurde. Telefonanrufe während der Dienstzeit bedeuten meist Stress, soviel wusste er nach all den Jahren bei der Polizei. Damit war dann auch die beruhigende Wirkung des grünen Tees, den er sich gerade bereitete, direkt hinfällig. Er ging ans Telefon. Es wurde ein dreister Raubüberfall am helllichten Tage auf seine Lieblingsfrittenbude gemeldet. Der Räuber sei mit einer 10-Liter-Flasche Sonnenblumenöl entkommen und noch immer auf der Flucht. Das war offensichtlich ein persönlicher Angriff auf Knöllenbeck, soviel stand fest. Hatte er doch, wie seit Jahren mehrmals in der Woche, einen Abstecher zum Imbiss nach Feierabend geplant, um dort eine Fritte Spezial mit frischen Zwiebeln zu bestellen und, wenn er Glück haben sollte, ein freundliches Lächeln der feschen Charlotte, die dort hinter dem Tresen arbeitet, zu erhaschen.
Sofort griff Knöllenbeck zum nigelnagelneuen und noch eingepackt auf dem Schreibtisch liegenden Navigationsgerät, dass vor kurzem vom Polizeidirektor persönlich an alle Einsatzkräfte verteilt worden war, um Einsatzfahrten zu optimieren. Allzuviele Beamte hatten sich in den letzten Jahren auf dem Hohenzollernring und in St.Pauli oder Schwabing verirrt. Wenn es nach Knöllenbeck ginge, bräuchte es solcherlei modernen Schnickschnack natürlich nicht; er hatte bislang immer das Ziel gefunden. Aber die neue Vorschrift war bindend: Einsatzfahrten nur noch unter Zuhilfenahme des Navis. Ärgerlich war zudem, dass dem Gerät kein ordentliches Handbuch beilag, sondern stattdessen nur ein Faltblatt mit wenigen gezeichneten Instruktionen zum Einschalten und zur Zieleingabe. Dazu ein Schraubendreher und ein Glückskeks mit chinesischen Schriftzeichen. Wie durch ein Wunder war tatsächlich nicht mehr zu tun und schon nach einer knappen dreiviertel Stunde raste Knöllenbeck vom Parkplatz vor dem Präsidium los Richtung Einsatzort, geleitet durch das technische Helferlein.
„Die nächste rechts, das kenne ich, da bin ich doch schon zig Mal auf dem Weg zu Charlotte hergefahren“ dachte Knöllenbeck. „Bei nächster Gelegenheit links!“ korrigierte das System. Leicht genervt gehorchte der Polizist – wer weiß, ob die Fahrt aufgezeichnet und später von höherer Stelle betrachtet wird. So ging es einige Minuten, bis Knöllenbecks Blick weitere Informationen auf dem Bildschirm entdeckte. „Noch 17 Kilometer, Ankunft in 16 Minuten“ stand da zu lesen. Verdutzt las er er zweites und ein drittes Mal. Da stimmt doch irgendwas nicht! Sowas hat er als erfahrener Kriminaler doch im Blut. Wie kann es sein, dass jeder Minute ein Kilometer zugeordnet ist, dann aber ein Kilometer übrig ist? Welcher Kilometer ist das dann? Der Letzte oder der Erste? Und welches Geheimnis steckt dahinter? Hat er ein Wurmloch entdeckt, mit dem man Strecke ohne Zeit überwinden kann?
Er runzelte die Stirn und hielt hinter dem blauen VW Golf auf dem Parkplatz an, um nachzudenken. Der Fahrer des Golf stieg währenddessen fluchend aus dem Auto, öffnete den Kofferraum und holte einen großen Behälter und einen Trichter heraus, ging zur Tankklappe und versuchte das Auto zu betanken. Das fiel ihm nicht leicht, wie Knöllenbeck mit ansehen musste. Der Trichter fiel ständig herunter, während er den ungewöhnlichen und ziemlich großen Kanister versuchte in die richtige Position zu heben.
„Darf ich Ihnen zur Hand gehen? Ich sehe doch, dass Sie eine dritte oder vierte Hand benötigen“ fragte der Kommissar, nachdem er ausgestiegen war. „Oh ja gerne! Die verdammt hohen Dieselpreise haben mich davon abgehalten, rechtzeitig zu tanken. Das ist aber selten, dass man so hilfsbereite Mitmenschen trifft“ erwiderte der Golffahrer. „Natürlich, als Polizist bin ich stets Ihr Freund und Helfer!“. Erstaunlicherweise verstummte der andere in diesem Moment und murmelte nur noch ein „Danke“, als der Tankvorgang beendet war und fuhr eilig davon.
Knöllenbeck aber war stolz auf sich und atmete tief durch. Der Duft, der ihm dabei durch die Nase strömte, kam ihm fast vor, als stünde er in Charlottes Imbiss. Er lächelte zufrieden und setzte sich wieder in seinen Einsatzwagen. Jetzt konnte er in aller Ruhe über den geheimnisvollen Kilometer nachdenken.