Neues von Krawutke
Knöllenbeck stand in der Teeküche des Kommissariats und starrte auf den Wasserkocher. Petra Fitze hatte das Gerät wenige Tage zuvor bestellt und dann direkt neben die Kaffeemaschine gestellt. „Unsere Kaffeemaschine ist jetzt nicht länger Single, sondern glücklich verheiratet“, hatte sie gewitzelt. Und nun das. Nicht nur waren Wasserkocher und Kaffeemaschine vom selben Hersteller, sie kamen sogar aus der selben Produktfamilie. Sie waren sozusagen Bruder und Schwester. Der Gedanke an eine Ehe zwischen Geschwistern lies Knöllenbeck schaudern. Er nahm den Wasserkocher von der Ablage und warf ihn in den Papierkorb. Inzest zwischen Küchengeräten würde es hier nicht geben. Nicht bei der Kriminalpolizei Markscheid.
Kriminalrat Möller kramte in seinen Papieren. Dann reichte er Knöllenbeck die Postkarte über den Schreibtisch, die am Morgen gekommen war. Auf dem Bild war ein Berg zu sehen. Sieht aus wie die Zeichnung auf den Toblerone-Schokoladen, dachte Knöllenbeck. Er drehte die Postkarte um. Der Text auf der Rückseite war kurz gehalten: „Ihr kriegt mich nie! Josef Krawutke“. Der ehemalige Hausmeister des Kommissariats war seit der Aufdeckung seiner nächtlichen Überfälle und Jodelattacken auf alleinstehende Frauen noch immer flüchtig. Mit Unbehagen erinnerte sich Knöllenbeck daran, wie Krawutke ihn und Jacqueline Freudenreich während seiner Flucht im Heizungskeller eingesperrt hatte. Es war keine seiner Sternstunden bei der Polizei gewesen.
Kriminalrat Möller erhob die Stimme: „Das kann so nicht weitergehen. Dieser Krawutke macht uns noch zum Gespött der ganzen Branche. Wir müssen etwas unternehmen. Die Postkarte wurde in Brig abgestempelt. Also fahren Sie da hin und ermitteln undercover. Mit den örtlichen Behörden ist bereits alles geklärt. Ich erwarte Erfolge!“. Knöllenback hatte keine Ahnung, wo Brig lag, wusste aber aufgrund jahrelanger Erfahrung, wie man auf solche Ansprachen eines Vorgesetzten am besten reagierte: „Ah, Brig. Hätte ich mir denken können, dass der Schweinehund sich da versteckt. Verlassen Sie sich ganz auf mich, Chef. In einer Woche liefere ich Ihnen den Mistkerl mit Handschellen ins Büro.“
Später am Abend recherchierte Knöllenbeck im Internet alles, was er über Brig in Erfahrung bringen konnte. Die Stadt lag im Schweizer Kanton Wallis. Zum Glück wurde in diesem Teil des Kantons nicht Französisch gesprochen, atmete Knöllenbeck auf. Die Verständigung mit den Einheimischen würde also kein Problem sein, stellte er erleichtert fest. Er hatte keine Ahnung, wie sehr er sich täuschen sollte.
Die Gaststätte lag in einer kleinen Seitenstrasse der Altstadt von Visp. Knöllenbeck warf einen letzten Blick in den „Ratgeber Schweiz“, den er am Bahnhof in Bern gekauft hatte. Die Schweizer begrüssten sich mit einem „Grüezi“, las er im ersten Kapitel. Das musste für den Anfang reichen. Er setzte sich zu zwei Männern an einem Tisch gleich neben dem Eingang. Die Beiden unterbrachen ihr Gespräch und schauten erstaunt hoch. „Krüttzi!“ rezitierte Knöllenbeck das eben gelernte. „Guete Abe“ kam die gemurmelte Antwort. Knöllenbeck holte das Foto von Krawutke aus der Manteltasche und hielt es den beiden Männern unter die Nase. „Kennen Sie diese Person?“, fragte er in dienstlich-autoritärem Ton. Die beiden Männer warfen sich Blicke zu. „Tschugger!“ zischte einer. Knöllenbeck war verwirrt. Warum wolle der Mann jetzt Zucker? Wahrscheinlich eine Schweizer Eigenart, die erst in Kapitel 2 des „Ratgeber Schweiz“ erklärt werden würde. Knöllenbeck stand auf und holte ein Päckchen Zucker von der Anrichte neben dem Kücheneingang. Als er wieder zum Tisch zurückkehrte, waren die beiden Männer bereits verschwunden. Das fängt ja gut an, dachte Knöllenbeck.
Zwei Wochen später. Knöllenbeck sah Schwarz. Und das war durchaus wörtlich zu nehmen. Er blickte aus dem Fenster des Intercity-Zuges nach Basel hinaus in die Dunkelheit des Lötschbergtunnels. Schweren Herzens hatte er die Rückreise nach Markscheid angetreten. In den vergangenen Wochen hatte er überall nach Krawutke gesucht. Er war mit der Luftseilbahn nach Oberems hinauf und vom Matterhorn nach Zermatt hinab. Er hatte sich auf den Serpentinen zum Furkapass geschlängelt und in der Alpentherme Leukerbad geschwitzt, überall hatte er das Foto herumgezeigt. Viele Einheimische hatten ihm bereitwillig Auskunft gegeben, doch leider hatte er kein Wort davon verstanden. „Ja, die Walliser haben schon einen eigenartigen Dialekt. Selbst wir anderen Schweizer verstehen sie nicht“, tröstete ihn der Mann auf der Sitzbank gegenüber, dem er sein Herz ausgeschüttet hatte. Kriminalrat Möller würde sehr enttäuscht sein. Knöllenbeck hatte alles versucht, doch Krawutke blieb verschwunden.