Circulus perficitur
Leutnant Andreas von Reyden fiel wie ein Sack in den hohen Schnee, nachdem ihn die Wachleute vom LKW geworfen hatten. Hustend und keuchend stütze er sich auf den Händen ab, spuckte Blut auf die endlose weiße Fläche und wurde dann von kräftigen Armen bis vor die Tür der kleinen Bauernkate mitten im sibirischen Nirgendwo gezogen. Er wußte nicht, warum man ihn aus dem Lager hierher verfrachtet hatte. Aber er meinte zu wissen, daß es dafür nur einen Grund geben könne: Man hatte ihn zum Sterben hergebracht.
Am Eingang stand eine ältere Frau, die ihn sofort mit einer kraftvollen Hand am Arm packte, ins Haus zog und dann ohne die Wachleute eines einzigen Wortes zu würdigen die Tür schloss. Von Reyden sank auf einer großen Holzbank nieder und sah sich um. Eine typische russische Bauernstube, wie er sie in den Jahren des Krieges schon so oft gesehen hatte. Die Frau hatte sich ihm gegenüber hingesetzt, blickte ihn mißtrauisch an und schien nicht so recht zu wissen, wie es mit dem Gast nun weitergehen sollte. Und während Andreas von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wurde, stand sie unvermittelt auf, holte ein Bild von einer Kommode und hielt es ihm direkt vor die Augen.
„Das Sohn“, meinte sie in deutsch und deutete mit einem Finger auf ihre Brust. Die Abbildung zeigte einen verblüffend jungen Mann in der Uniform der Roten Armee. Der war höchstens siebzehn Jahre alt. Um den Rahmen des Bildes war ein schwarzer Trauerflor gebunden und von Reyden dachte sofort: Scheiße, ihr Sohn ist gefallen. Dafür wird sie mich leiden lassen. Doch er sollte sich täuschen.
Vielleicht geschah es, weil die Frau nicht länger allein hier im Nichts leben wollte und sich Gesellschaft erhoffte. Vielleicht war es auch, weil sie dringend die Arbeitskraft ihres Gastes brauchte, den man extra aus dem Kriegsgefangenenlager hierhergebracht hatte, um ihr zur Hand zu gehen. Wahrscheinlich aber machte sich Nadja die viele Mühe, weil sie ein gutes Herz hatte und nicht mit ansehen konnte, wie der schwer erkrankte Deutsche vor ihren Augen starb. Jedenfalls begann sie noch am ersten Tag, Andreas wieder aufzupäppeln. Er schlief viel, von heftigen Fieberanfällen geschüttelt. Sie hatte Medizin aus dem Dorf in der Nähe gebracht, flößte ihm ständig Tee ein und in einem seiner wenigen wachen Momente hörte er sie beten. Nach sechs Wochen war er über den Berg. Sie hatte ihm das Leben gerettet.
Nadja war übrigens längst nicht so alt, wie er angenommen hatte, erst Mitte dreißig und sie war auch nicht wirklich allein. Ihr Mann war im Krieg zum Arbeitseinsatz im Industriekomplex von Stalingrad beordert worden und lebte dort noch immer. Nur einmal im halben Jahr kam er vorbei und er machte nicht den Eindruck, als würde er die weite Reise gerne auf sich nehmen.
Andreas verbracht zwei Jahre auf dem kleinen sibirischen Gehöft. Als er zum ersten Mal in dem nahegelegenen Dorf gewesen war, hatte er viel Hass, Ablehnung, aber auch Neugier in den Gesichtern der Menschen gesehen. Es hatte lange gedauert, bis er erstmals gegrüßt wurde. Inzwischen war er fast schon akzeptiert, wenn auch von einigen der Dorfbewohner eher widerwillig. Und weil er inzwischen ein wenig russisch konnte, musste er immer ein bisschen von daheim erzählen, von seinen Eltern und dem Geschäft, daß die in Hannover führten.
So etwas wie ‚Normalität‘ zog ein.
Bis zu dem Tag, an dem Nadja im Dorf aufschnappte, daß das Lager aufgelöst werden sollte. Die Gefangenen erwartete der Abtransport in die Heimat. Sie und Andreas kamen sich an diesem Abend erstmals näher. Das war gefährlich, es konnte sie ins Lager und ihn ins Grab bringen, aber wer sollte es schon mitkriegen? Nadjas Ehemann war erst vor wenigen Tagen zu Besuch gewesen und hatte sich dann wieder auf die Fahrt Richtung Stalingrad gemacht. Der würde so bald nicht wiederkommen. Und das Dorf lag eben doch ein ganzes Stück weit weg.
Zwei Wochen später fuhr der gleiche LKW, der Andreas von Reyden vor zwei Jahren abgesetzt hatte, mit knirschenden Reifen wieder vor der Bauernkate vor. Man hatte den Eindruck, ein anderer Mensch würde auf der Ladefläche Platz nehmen. Andreas war rasiert, kerngesund und kräftig. Am Abend zuvor hatte er Nadja noch ein Geschenk gemacht. In all den Jahren der Gefangenschaft hatte er seinen goldenen Ring vor den Wächtern versteckt gehalten. Seine Waffen, seine Uhr, seine Zigaretten, sein Geld, seine Papiere – alles hatte Abnehmer gefunden. Doch den Wappenring mit dem Wahlspruch seiner Familie: „Circulus perficitur“ hatte ihm kein Russe abnehmen können. Und den gab er Nadja. Er wußte, daß er sie nie wiedersehen würde.
Drei Monate später stand Andreas nach den schier endlosen Jahren von Krieg und Gefangenschaft wieder in Hannover. Ihm stand ein langer, harter Neubeginn bevor. Immerhin, dachte er, ich kann Panzer fahren und russisch sprechen, was soll schon passieren?
Viele Male war er versucht, Nadja einen langen Brief zu schreiben, ihr zu erzählen, wie er dabei war, das Geschäft seiner Eltern wieder aufzubauen, wie er noch mal die Schulbank drückte, um Buchführung zu lernen, wie sich Hannover aus einer Trümmerlandschaft wieder zu einer florierenden Stadt entwickelte. Aber er schrieb nie, denn er ahnte, welchen Ärger auch ein noch so harmloser Brief nach sich ziehen würde. Und weil natürlich auch sie nie an ihn schrieb, erfuhr er nicht, daß Nadja nur ein halbes Jahr nach seinem Weggang zu ihrem Mann gezogen war, wo sie drei Monate später zum zweiten Mal Mutter wurde.
Andreas von Reyden hatte ein langes Leben mit sehr viel Arbeit hinter sich, als er Jahrzehnte später in einem Altersheim in Peine verstarbt. Lida Iwanow, die russische Altenpflegerin, die ihn in seinen letzten beiden Jahren versorgt hatte, dachte bei Schichtende an seinem Todestag noch einmal zurück an den alten Herrn von Reyden. Was für ein netter alter Mann! Und er war der einzige von den Heimbewohnern gewesen, der ihre Sprache gekonnt hatte. Während sie sich die Hände wusch, fragte sie sich, wieso ein so freundlicher und gebildeter Mann nur unverheiratet und kinderlos geblieben war. Hätte er es nicht verdient gehabt, von seinen Enkeln gepflegt zu werden und im Kreise seiner Lieben zu sterben?
Während der Arbeit im Heim durfte sie als Pflegerin keinen Schmuck am Körper tragen. Und derweil sie sich zunächst die Armbanduhr umlegte, seufzte Lida noch einmal. Ja, daß Leben ist nicht gerecht. Er hätte besseres verdient.
Dann steckte sie sich zum Schluß noch den Ring an den Finger, den ihr ihre Großmutter auf dem Sterbebett geschenkt hatte. Den mit dem schönen Wappen und dem rätselhaften Spruch: „Circulus perficitur“. Was das wohl heißen mochte? Irgendwann mal würde sie danach googeln.