Die Tasche
Im Wagen war es jetzt sehr still geworden. Während der ganzen Fahrt durch Polen waren Lena, Alina und Maria noch ganz aufgekratzt gewesen, hatten viel gelacht und sich Geschichten aus der gemeinsamen Militärzeit erzählt. Nach dem illegalen Grenzübertritt in die russische Oblast Kaliningrad waren sie schon merklich ruhiger und angespannter. Und jetzt hatten die drei jungen Frauen aus der Ukraine das Ziel ihrer langen Reise unmittelbar vor sich, alle gezwungene Fröhlichkeit war verflogen. Und im Kofferraum lag die Tasche.
An diesem schönen, warmen Maitag des Jahres 2022 waren Lena und Alina in den frühen Morgenstunden mit einem Strom von ukrainischen Kriegsflüchtlingen ohne irgendwelche Kontrollen über einen Grenzübergang nach Polen gelangt. Die Grenzer hatten es schon längst aufgegeben, den täglichen grauen Menschenfluss in ihr Land zu kontrollieren und die beiden Frauen, die gemeinsam die riesige Sporttasche trugen, waren auch alles andere als auffällig. Am vereinbarten Treffpunkt wartete bereits Maria mit einem gestohlenen Wagen mit polnischen Kennzeichen auf ihre Freundinnen. Damit hatten die drei die erste Hürde ihres Unternehmens bereits erfolgreich hinter sich gebracht. Sie verluden die Tasche, stiegen in das Auto ein und brausten los Richtung Norden.
Die letzten Wochen in Lemberg waren furchtbar gewesen. Nach dem Fall von Kiew waren die Reste der Regierung hierher ausgewichen und verkündeten täglich über alle verbliebenen Sender eine Mischung aus Drohungen gen Rußland, Hilferufen an den Westen und zunehmend absurderen Erfolgsmeldungen aus den noch umkämpften Gebieten der Ukraine. In der Stadt war längst unter dem Andrang immer neuer Flüchtlinge die Versorgung zusammengebrochen. Die letzten regulären Militäreinheiten hatten alle Zuversicht verloren, die russische Armee jetzt noch stoppen zu können. Es ging sichtlich auf das Ende zu.
Maria war keine gebildete Frau, aber die Lembergerin war es, die die Idee gehabt hatte, wie man alles noch ändern könnte und die war ihr schon im April gekommen, als in der Stadt mal wieder unkontrolliert Waffen an die Milizen und Freiwilligenverbände ausgegeben worden waren. Zwischen all den Gewehren und Pistolen hatte sie eine vermoderte, große, sehr alte Kiste mit dem Game Changer entdeckt und sofort zugegriffen. Richtig eingesetzt könnte er vielleicht noch einmal alles drehen.
Alina war jetzt sehr aufgeregt. Schon der illegale Wechsel über die grüne Grenze von Polen ins russische Kaliningrader Gebiet hatte sie viele Nerven gekostet. Aber wenn es etwas gab, worauf man sich verlassen konnte, dann auf die notorische Schlamperei der Russen und ihrer Grenztruppen. Maria hatte vorher alles gut ausgekundschaftet und vorbereitet. Jetzt, wo sie Königsberg gerade hinter sich gelassen hatten und sich direkt vor dem regionalen Flughafen Kaliningrad-Chrabrowo befanden, ging sie im Kopf noch einmal die Erklärung durch, die sie nach der Fahrt zurück nach Polen in Breslau von einem dezenten Internetcafe aus abgeben wollte. Ihr Inhalt war einfach: ‚Russen, haut ab aus der Ukraine, sonst machen wir sowas jetzt ständig!‘ Doch in Wahrheit wollten sich die drei Frauen in Polen trennen und sich aus Sicherheitsgründen nie wieder treffen.
Vor dem Flughafen gibt es ein kleines Waldstück. Dort hielt Maria den Wagen an, ging zum Kofferraum und hob die schwere Tasche heraus. Lena ging ihr zur Hand, als sie diese öffnete und sich ohne auch nur eine Sekunde zu zögern das Abschussrohr der Waffe auf die Schulter hob. Sie hatte gerade gesehen, wie eine große Maschine der Fluggesellschaft Rossija auf einer der Startbahnen in Position gegangen war und sich anschickte, loszufliegen …
Der deutsche Botschafter hatte am nächsten Tag keine Ahnung, warum man ihn zu so früher Stunde und in derart harschem Ton in den Kreml einbestellt hatte. Auf der Fahrt las er die russischen Morgenzeitungen und natürlich gab es nur ein Thema: Am Flughafen nördlich von Königsberg war ein Verkehrsflugzeug mit Reiseziel Sankt Petersburg direkt beim Start mit 144 Passagieren an Bord von Unbekannten mit einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen worden. Alle Flugzeuginsassen waren tot, darunter auch mindestens sieben Kinder. Das war furchtbar und er würde natürlich die Gelegenheit nutzen, trotz aller Spannungen im Kreml im Namen Deutschlands zu kondolieren. Doch warum bitteschön hatte man ihn einbestellt?
Der Botschafter konnte nicht ahnen, das noch während der Nacht ein Moskauer Expertenteam vor Ort am Königsberger Flughafen die Ermittlungen aufgenommen hatte. Er konnte gleichfalls nicht wissen, daß neben Reifenspuren am Rande des Flugplatzes eine große Sporttasche und ein Abschussrohr für eine Rakete älteren russischen Typs gefunden worden war. Die Abschussvorrichtung war mit einer eindeutigen Kennung versehen. Das Raketensystem war in den achtziger Jahren von der UdSSR an die frühere DDR verkauft worden. Aus deren Militärbeständen war sie später an die Bundeswehr übergegangen, die die Rakete im März 2022 an die Ukraine weitergegeben hatte.
Und natürlich ahnte der Botschafter bei seiner Fahrt in den Kreml auch nicht, daß man ihm in weniger als einer halben Stunde im Kreml in eisiger Atmosphäre ein schriftliches Ultimatum überreichen würde …
(Anmerkung der Redaktion: Dies ist natürlich keine Satire. Dies ist eine furchtbare Fiktion mit einem womöglich noch schrecklicheren Ende. Hoffen wir alle, daß so etwas oder etwas vergleichbares nicht geschieht. Viel mehr als die Hoffnung bleibt uns leider nicht.)