Miss Marmoppel und die Emscherleiche
„Was machst Du?“, fragte der pickelige Teenager seinen Begleiter. „Einen runterholen“, antwortete der gelangweilt. „Cool! Hier, mitten auf der Emscherfähre?“, fragte der Erste. „Yepp, genau hier“, kam die Antwort. „Cool!“, wieder der Erste. Miss Marmoppel beachtete die beiden Pubertierenden nicht weiter und vertiefte sich wieder in ihre Lektüre. Plötzlich gab es einen heftigen Stoss, das ganze Schiff erzitterte und die Motoren der Fähre verstummten.
Lange Zeit passierte nichts. Dann meldete sich eine Stimme über die Lautsprecher: „Krrrrkt… Werte Fahrgäste, wir hatten eben eine kleine Kollision. Eigentlich nichts ungewöhnliches. Unsere Fähre trifft ja häufiger auf Gegenstände, die von Bewohnern in die Emscher geworfen werden. Müllsäcke sind an der Tagesordnung. Aber auch schon ganze Badewannen oder sogar Paletten mit verdorbenen Fisch waren dabei. Heute haben wir zum ersten Mal eine Leiche gerammt. Eine Wasserleiche. Bitte bleiben Sie auf ihren Plätzen, es ist kein schöner Anblick, glauben Sie mir. Wir haben eben mit der Polizei gesprochen und müssen leider noch eine Weile vor Ort bleiben, bis ein Kriminalkommissar hier vorbeischaut. Wir bitten um Ihr Verständnis… Krrrkt!“ Die beiden Teenager schauten sich an. „Cool!“, meinten beide fast gleichzeitig. Miss Marmoppel klappte ihr Buch zu.
Eine Viertelstunde später legte ein kleines Schlauchboot längsseits der Emscherfähre an und eine ungepflegt wirkende Gestalt kletterte über eine Leiter ächzend an Bord. Miss Marmoppel kannte ihn nur zu gut. Kriminalkommissar Knöllenbeck stellte sich breitbeinig an Deck und herrschte als erstes die Passagiere an: „Polizei! Niemand verlässt das Schiff!“ Miss Marmoppel seufzte. Wer sollte denn das Schiff verlassen? Und wohin? In die Emscher springen und fortschwimmen? Da würde man bestimmt so enden wie diese Wasserleiche… Miss Marmoppel hielt inne. Und wenn das die Lösung des Falls wäre? Ein Markscheider, der so leichtsinnig gewesen war, in der Emscher baden zu wollen? Miss Marmoppel trat an die Reling und betrachtete die Wasserleiche genauer.
Eine junge blonde Frau stellte sich ebenfalls an die Reling. Miss Marmoppel erkannte sie. Es war die junge Assistentin dieses müffelnden Polizisten. (Mittlerweile nicht mehr müffelnd, aber das konnte Miss Marmoppel nicht wissen).
„Sehen Sie das?“, fragte Jacqueline Freudenreich.
„Sie meinen den Neopren-Anzug und die Badekappe?“, fragte Miss Marmoppel zurück.
„Genau. Und was ist da an seinem Kopf?“, fragte Jacqueline Freudenreich.
„Eine Platzwunde. Er scheint vor dem Tod mit etwas zusammengestossen zu sein, das im Wasser trieb“, meinte Miss Marmoppel.
Jacqueline Freudenreich deutete auf die Oberarme des Toten: „Und diese dreistellige Zahl? Da steht 183. Mit schwarzer Schrift auf beide Oberarme geschrieben. Und er trägt so ein kleines Lätzchen mit einer Zahl. Auch 183. Die selbe Zahl wie auf den Oberarmen.“
Miss Marmoppel drehte sich um und schaute Jacqueline Freudenreich direkt in die Augen.
„Richtig. Ein Lätzchen mit einer Startnummer. Wie bei Triathleten.“
Jacqueline Freudenreich schaute ihrerseits Miss Marmoppel an: „War nicht letzte Woche der Emscherbüttel-Ironman? Und wurde nicht einer der Teilnehmer vermisst?“
Zwei Tage später. Miss Marmoppel schlug die Zeitung auf. Auf der dritten Seite ganz unten fand sie den Artikel, den sie suchte:
Toter in der Emscher gefunden – Ein unbekannter Toter gibt der Polizei Rätsel auf. Bisher konnte die Identität des Mannes nicht aufgeklärt werden. Der ermittelnde Kriminalbeamte erklärte gegenüber unserer Zeitung: „Der Tote wurde in unmittelbarer Nähe der Emscherfähre gefunden. Es kann sich daher nur um einen Fahrgast der Fähre handeln. Alles andere würde gar keinen Sinn ergeben. Aber ohne Passagierliste tappen wir im Dunkeln. Der Kapitän behauptet zwar, für kurze Überfahrten bei Fähren gäbe es keine Passagierlisten. Doch mir braucht er mit solchen Ausflüchten nicht zu kommen. Ich werde ihn so lange verhören, bis er die Liste und den Namen des Toten rausrückt.“ Weitere Einzelheiten waren von der Polizei nicht zu erfahren.
Miss Marmoppel seufzte und legte die Zeitung weg.