Die letzte Fahrt der ‚Markscheid‘ / Teil 2
Im Herbst des Jahres 1897 strandete die ‚Markscheid‘ vor der englischen Küste. Das Schiff war von der Mannschaft verlassen worden und in einem grauenvollen Zustand. Seither ranken sich Mythen und Legenden um die letzte Fahrt des einst so stolzen Schiffes.
Jetzt ist ein Brief aufgetaucht, den Benjamin Crohn, Reeder, Schiffseigner und Teilnehmer der letzten Fahrt der ‚Markscheid‘ aus Tripolis an seine Frau Hiltrud geschickt hat und aus dem wir hier weiter zitieren:
„Das herrliche Wetter, das wir bei der Anreise nach Rumänien genießen konnten, blieb uns leider nicht treu. Wir hatten den Hafen von Konstanza kaum verlassen, da kündigte sich auch schon ein heftiger Sturm an, der uns auf Höhe von Varna dann auch voll traf und uns bis runter zum Bosporus in den Fängen hatte.
Die Mannschaft hielt sich aber trotzdem zunächst ganz wunderbar. Es ist eine bunte Truppe aus aller Herren Länder, Polen, Rumänen, Engländer, Russen, Franzosen, Deutschen und, und, und …
Höre auf meine Worte, liebe Hiltrud, wir schreiben jetzt das Jahr 1897 und es werden fünfzehn, höchsten zwanzig Jahre vergehen, da werden alle Menschen aus Europa sich zu einem starken, friedlichen und einheitlichen Staat formieren, davon bis ich fest überzeugt. Und es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn nicht weitere zwanzig Jahre später die ganze Welt sich zum Bruderbunde die Hand reichen würde.
Ja, die Erlebnisse mit unserer wunderbaren Mannschaft haben mich optimistisch gemacht. Zunächst.
Doch natürlich gibt es auch noch Menschen, die im Mittelalter stehengeblieben zu sein scheinen. Unser rumänischer Steuermann Maxim Netruscu gehört dazu. Er besucht häufiger den Laderaum, als es nötig ist und meinte einmal zu mir, er habe Kratzgeräusche aus einer der länglichen Kisten gehört, die wir in Konstanza aufgenommen haben, aus der mit den schönen blutroten Siegeln nämlich, wir sollten alle beten. Wie absurd! Wir haben Erde und Silbersand geladen, was soll denn da kratzen und was hat unser Herrgott damit zu tun?
Seither läuft er nur noch mit einem Kranz aus Knoblauch um den Hals herum über das Schiff und ich zweifle zunehmend an seinem Verstand.
Noch verrückter ist der Russe Igor, der mich kurz vor der Einfahrt in die Dardanellen mit der Nachricht überraschte, wir hätten ‚das Böse an Bord, das absolute Böse‘!
Natürlich war es eine schlechte Idee vom Kapitän, ausgerechnet einen Engländer als Schiffskoch anzuheuern und ich verfluche ihn dafür bei jeder Mahlzeit auf dem Schiff stets aufs neue, aber ‚Das Böse‘? Das ‚absolute Böse‘? Um das bewerten zu können, hätte er erstmal Deine verstorbene Mutter kennenlernen müssen, liebe Hiltrud.
Die Zollrevision beim Verlassen des Schwarzen Meeres lief übrigens erfreulich schnell und unkompliziert. Einige Offiziere des osmanischen Reiches begaben sich in den Frachtraum, sahen sich nur ganz kurz um, drückten mir dann einen Haufen Papiere in die Hand und verließen anschließend fast schon fluchtartig das Schiff. Sie fanden nicht einmal die Zeit, das übliche Bakschisch in Empfang zu nehmen.
Das Mittelmeer lag jetzt vor uns. Aber die Fahrt wurde nicht besser, nur noch wundersamer.“
Wird fortgesetzt …