Eine Lektion Jitsu-Fitsu
„Halt! Bleiben Sie stehen!“, brüllte Knöllenbeck und zog seine Taserpistole aus dem Halfter. Jetzt musste er nur noch das rote Kabel in die Pluspol-Buchse stecken… oder war es die Minuspol-Buchse? Oder das blaue Kabel in die Minuspol-Buchse und das grüne Kabel in die Pluspol-Buchse? „Moment noch, ich hab‘s gleich!“, rief Knöllenbeck dem Flüchtenden hinterher und kramte in seiner Hosentasche nach der Bedienungsanleitung.
Die Idee, die Kriminalpolizei Markscheid mit neuester Technik auszustatten, ging natürlich auf das Konto von Kriminalrat Möller. Wer sonst käme auf den Gedanken, Knöllenbeck die geliebte Dienstwaffe wegzunehmen und durch eine Taserpistole zu ersetzen? Erst der elektrische Dienstwagen, jetzt eine elektrische Waffe. Was kommt als nächstes, fragte sich Knöllenbeck. Aber die Zeiten änderten sich. Und es kam noch schlimmer. Der Amtsleiter bestand ebenfalls darauf, dass sich seine Beamten gesund ernährten und körperlich topfit sein müssten. Die Kantine hatte ihr Angebot auf Vegan umgestellt und jeden Tag gab es ein umfangreiches Sportprogramm. Zu allem Überfluss mussten neuerdings auch noch asiatische Kampfsportarten trainiert werden. Und so standen Kriminalkommissar Knöllenbeck und Fabienne, die derzeitige Schülerpraktikantin, an diesem Morgen mit legerer Jogging-Hose und T-Shirt in der Sporthalle des Kommissariats und lauschten den Erklärungen von Kriminalrat Möller.
„Bei einer Verhaftung müssen Sie jederzeit mit einem Angriff rechnen“, dozierte Möller gerade. Und fuhr fort: „Deshalb ist Jitsu-Fitsu so wichtig. Ich selbst habe den braunen Gürtel. Ich zeige Ihnen jetzt mal, wie das geht. Knöllenbeck, greifen Sie mich mal an!“
„Das wollen Sie nicht wirklich“, antwortete Kriminalkommissar Knöllenbeck.
„Nein, das wollen Sie nicht wirklich“, sekundierte Fabienne.
„Nur keine falsche Scham! Ich werde dem Angriff mit einer geschickten Drehung ausweichen und Sie dann blitzschnell zu Boden werfen“, ermunterte der Amtsleiter Knöllenbeck.
„Nur zu, Sie werden schon sehen!“, schob Möller nach und tänzelte vor Knöllenbeck hin und her.
Knöllenbeck stellte sich breitbeinig vor seinen Chef. Beide schauten sich an. Knöllenbecks Rechte schnellte plötzlich vor und traf den Kriminalrat hart im Gesicht. Möllers Kiefer gab ein Geräusch von sich, das wie ein brechendes Schott auf der Titanic klang. Dem Kriminalrat sackten die Knie weg. Wie in Zeitlupe ging er zu Boden. Knöllenbeck und Fabienne schauten sich an.
„Ich hatte ihn gewarnt“, meinte Knöllenbeck schliesslich.
„Stimmt. Sie hatten ihn gewarnt“, bestätigte Fabienne.
Kriminalrat Möller kam langsam wieder zu sich. Ein breiter roter Rinnsal lief aus seinem Mund, formte sich zu grossen Tropfen und hinterliess auf der Turnmatte unter ihm ein unregelmässiges rotes Muster.
Zwei Stunden später. Noch nie hatte die Bürgermeisterin Knöllenbeck persönlich angerufen. Aber Sie war es. Knöllenbeck konnte kaum glauben, dass da tatsächlich Beate Crohn-Corque am Telefon war. „Dumme Sache, das. Der arme Herr Möller ist ja vier Wochen krankgeschrieben“, sagte die Bürgermeisterin gerade. „Und Ihre Kommissar-Kollegen sind noch alle auf der Fortbildung beim Bundeskriminalamt. Sie sind also derzeit der ranghöchste Beamte vor Ort.“ Sie holte tief Luft. „Herr Knöllenbeck, ich übertrage Ihnen die Leitung der Dienststelle. Natürlich nur so lange, bis Herr Möller wieder zurück ist.“ Knöllenbeck war sprachlos. „Äh, ja… danke“, brachte er schliesslich hervor und legte auf. Doch langsam aber sicher bahnten sich die Worte der Bürgermeisterin einen Weg durch Knöllenbecks Gehirn. Und immer deutlicher begann er zu begreifen, welche ungeahnten Möglichkeiten ihm da gerade unverhofft in den Schoss gefallen waren.
Lesen Sie demnächst den zweiten Teil: „Aufstieg und Niedergang des Imperium Knöllenbeckum“