L‘amour toujours
Das Lied war fürchterlich. Es hatte eine langweilige Melodie und einen einfallslosen Text. Doch man hörte es seit kurzem immer und überall. Aus jedem Lautsprecher und jedem Radio erklang „Nous les amoureux“ von Jean-Claude Pascal. Es war erst wenige Wochen her, dass das Lied den Grand Prix Eurovision de la Chanson 1961 gewonnen hatte. Und jetzt spielte es auch die Jukebox der schäbigen Spelunke in der Kasbah von Algier pausenlos. „Ah oui, l‘amour toujours“, dachte Henri Leclercq, immer geht es in diesen Schnulzen um die Liebe.
Leclercq hatte den bestellten Qahwa kaum angerührt. Er wartete. Die Eingangstür fest im Blick, die Tür zu den Toiletten im Hinterhof als Fluchtweg für den Notfall in Reichweite, war er im schummrigen Licht des zwielichtigen Etablissement kaum auszumachen. Die Jukebox plärrte unaufhörlich das Lied. Es ging um eine von der Gesellschaft nicht akzeptierte Liebe. Leclercq konnte kaum glauben, dass seinen Landsleuten ein kleines, aber entscheidendes Detail offenbar entgangen war. Der Sänger sprach ein fiktives Gegenüber an, doch ergab sich aus keiner Silbe, dass dieses Gegenüber eine Frau war. Ein versteckt homosexueller Text gewinnt den Grand Prix de la Chanson. Was wird diese Veranstaltung in zukünftigen Jahren noch alles bringen, sinnierte Leclercq.
Eine übel aussehende Gestalt mit auffallend kurzem Haarschnitt betrat die halbseidene Spelunke. Es brauchte eine Weile, bis sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten. Dann steuerte er zielsicher auf die Jukebox zu. Bitte nicht noch einmal, flehte Leclercq innerlich. Der Unbekannte studierte lange die Auswahl der Jukebox, warf dann eine Ein-Franc-Münze in den Schlitz und drückte die Taste seiner Musikwahl. Ein völlig anderes Lied erklang nun. Leclercq erkannte es sofort.
Non ! Rien de rien
Non ! Je ne regrette rien
Ni le bien qu‘on m‘a fait
Ni le mal tout ça m‘est bien égal !
Non ! Rien de rien
Non ! Je ne regrette rien
C‘est payé, balayé, oublié
Je me fous du passé !
Edith Piaf hatte das Lied den Soldaten der Fremdenlegion gewidmet. Und diese hatten es auch auf ihre ganz eigene Weise angenommen. Das 1. Fallschirmjägerregiment hatte sich im April auf die Seite der putschenden Generäle gestellt. Zur Strafe wurde es aufgelöst. Bei ihrem Abmarsch in das Militärgefängnis sangen die Offiziere des bestraften Regiments eine ganz eigene Adaptation von Piafs Lied. Beispielsweise war bei ihnen nicht „Je me fous du passé“ (Ich schere mich nicht um das Vergangene) zu hören, sondern „Au REP les officiers / sont tous fiers du passé“ (Die Offiziere im Fallschirmjägerregiment / sind alle stolz auf das Vergangene). Das Lied endete mit den Zeilen „Non je ne regrette rien / Et tous les officiers / sont prêts à recommencer“ (Nein, ich bereue nichts / Und alle Offiziere / sind bereit, es noch einmal zu tun). Das Lied hatte sich seitdem zu einem Erkennungszeichen der OAS entwickelt.
Der Fremde setzte sich an Leclercqs Tisch. Eine Vorstellung war nicht mehr nötig. Leclercq wusste jetzt Bescheid. Der Mann stammte aus den Reihen des französischen Militärs und hatte sich der Untergrundorganisation OAS angeschlossen, die für den Verbleib Algeriens als französisches Territorium kämpfte.
Lesen Sie irgendwann die Fortsetzung im nächsten Teil „Das Fischerboot“.