Seemannsgräber / Teil 1
Rigobert konnte es nicht mehr hören. Seit sage und schreibe sechs vollen Stunden textete ihn Kapitän Demagnien jetzt mit seinem Seemannsgarn zu. Wie er vor der Küste Chiles in einen schweren Sturm geraten war und sich und seine Mannschaft in den Hafen von Valparaiso hatte retten können, wie er bei Genua quasi im Alleingang eine Meuterei niedergeschlagen hatte … bla, bla, bla …
Und in der Kutsche gab es für ihn und seinen Begleiter Hannes auch zunächst keine Möglichkeit, sich dem Wortschwall des französischen Seemanns zu entziehen. Doch es war nicht mehr weit bis Marseille und Rigobert hatte eine kleine Überraschung vorbereitet.
Dabei hätte es ein wunderbarer Tag werden können. Rigobert konnte sich nicht daran erinnern, je einen schöneren September erlebt zu haben und 1805 war bisher ein überaus erfolgreiches Jahr für ihn gewesen. Wenn nur dieser Trottel mit seinem Geschwätz aufgehört hätte.
Genau in diesem Moment unterbrach Kapitän Demagnien seine Ausführungen, richtete seinen Blick auf die ihm gegenübersitzenden Rigobert und Hannes und fragte dann ersteren: „Und sie Monsieur Lelièvere? Was machen sie so?“
Natürlich hatte Rigobert nicht seinen richtigen Namen genannt, obwohl er auf den eigentlich recht stolz war. Immerhin gab es in seinem Geburtsort im deutschen Markscheid eine alte Legende um einen Namensvetter, der vor Jahrhunderten mal ein großer Volksheld gewesen sein soll. Viel mehr Grund zum Stolz hatte er nicht. Sein Vater war unbekannt und seine Mutter hatte nichts getaugt. Aber immerhin hatte die gebürtige Französin ihrem einzigen Sohn ihre Muttersprache beigebracht und es konnte der reiselustige Rigobert jederzeit und überall als waschechter Franzose durchgehen.
„Ich Monsieur? Ich bin Büchsenmacher und treffe gleich einen Kunden. Darf ich ihnen die Waffe einmal vorführen?“ Und bei diesen Worten griff der angebliche Monsieur Lelièvere auch schon in seine Reisetasche und holte eine kleine Pistole heraus, die er dem Kapitän lächelnd vors Gesicht hielt. Dann drückte er ab.
Die Sauerei in der engen Kabine der Kutsche hielt sich in Grenzen, Demagnien hatte ein sauberes Loch in der Stirn und würde hinkünftig niemanden mehr mit seinen Erzählungen von der angeblich ja heiligen Seefahrt langweilen. Nur der Kutscher, der aufgeschreckt vom Schuss angehalten hatte, vom Bock heruntergesprungen war und jetzt mit der Peitsche in der Hand die Tür aufriss, der nervte doch noch etwas.
„Gut daß sie kommen, einer ihrer Passagiere hat sich gerade erschossen!“ rief Rigobert dem entsetzten Mann entgegen, der daraufhin für einen Moment die Peitsche sinken ließ. Das war ein Fehler, denn es gab Rigobert die Zeit, vorzuschnellen und ihm sein Stilett weit in den Hals zu rammen. Weitere Beachtung mußte er dem röchelnden und rasch verblutenden Kutscher nicht mehr schenken.
Dann gab er kurz ein paar Kommandos an seinen Begleiter: „Hannes, Du setzt dich jetzt auf den Kutschbock und fährst weiter Richtung Marseille. Sobald eine Brücke kommt, hältst Du an und wir beide verschaffen dem seeligen Kapitän Demagnien eine Seebestattung allererster Klasse. Inzwischen schaue ich mal, was es so zu erben gibt.“
Demagniens militärischer Dreispitz passte Rigobert ganz hervorragend, ein praller Beutel mit Goldmünzen wechselte den Besitzer und dann war es auch schon an der Zeit, Ballast aus der fahrenden Kutsche abzuwerfen – den ganzen nautischen Quatsch (einen Sextanten, ein Fernglas und anderer Blödsinn) würde er nur schlecht absetzen und niemals brauchen können.
Rigobert hatte ja keine Ahnung, wie sehr er sich täuschen sollte …