Seemannsgräber / Teil 2
Kurz vor Marseille wurde die bis dahin recht entspannte Kutschfahrt von Hannes und Rigobert völlig überraschend unterbrochen, als sechs französische Kürassiere in hohem Tempo von der Stadt her kommend sich ihrem Gefährt in den Weg stellten. Ein Offizier stieg vom Pferd, öffnete den Verschlag der Kutsche, sah Rigobert mit seinem hübschen neuen Dreispitz und salutierte dann überaus zackig.
„Kapitän Demagnien, ich bringe ihnen neue Befehle direkt von der Admiralität, die sie bitte sofort lesen wollen. Meine Männer und ich eskortieren sie jetzt zu ihrem Schiff. Es gilt keine Zeit zu verlieren, sie legen heute noch ab.“
Rigobert war höflich genug, den Kavallerieoffizier nicht darauf hinzuweisen, das der echte Demagnien unlängst ganz überraschend verstorben und er daran jedenfalls nicht gänzlich unschuldig war. Vor gerade einmal einer Viertelstunde hatten Hannes und er die Nervensäge von einer Brücke in ein kleines Flüsschen geworfen, was der teure Verblichene hoffentlich als standesgemäße Beisetzung empfunden hätte.
1805 war für Rigobert doch bisher so ein gutes Jahr gewesen. Sollte sich jetzt womöglich eine Wende ankündigen? Seufzend öffnete er den Umschlag, den ihm der Soldat überreicht hatte und nahm die Befehle zur Kenntnis:
Demagnien sollte umgehend das Kommando über sein neues Schiff, die ‚Flamand‘ übernehmen und in See stechen. Schnellstmöglich sollte dann das Kap Trafalgar an der Südspitze Spaniens angelaufen werden, um sich dort mit der gemischt französisch-spanischen Flotte unter dem Kommando von Vizeadmiral de Villeneuve zu vereinen. Es folgten eine Reihe von Allgemeinplätzen vom kommenden „ewigen Ruhm“ und der direkt bevorstehenden Vernichtung der britischen Seemacht, die Rigobert reichlich kalt ließen.
Bei der ‚Flamand‘ handelte es sich also um ein Kriegsschiff. Und bei Trafalgar sollte irgendwas passieren. Das klang erst mal nicht übermäßig interessant, aber es versprach wenigstens doch ein kleines Abenteuer.
Immerhin ließ die Militäreskorte dem frischgebackenen Kapitän Rigobert noch die Zeit, sich im Hafen in einen kleinen Buchladen für nautische Literatur zu begeben, wo er einige Bücher für maritime Anfänger verlangte. Der nicht schlecht überraschte Händler begann zwar sofort, einige Schriften herauszusuchen, fragte dann aber scheinbar beiläufig nach dem Namen des Kapitäns und dessen Schiff. Er sei selbst lange Zeit zur See gefahren, habe schon vor vielen Jahren hier in Marseille Anker geworfen und freue sich immer, wenn echte Seemänner den Weg in sein kleines Geschäft fänden.
Rigoberts hartnäckige Vorurteile über Seefahrer bestätigte sich einmal mehr, als er den Namen Demagnien nannte und der Buchhändler wie aus der Pistole geschossen entgegnete, dies könne gar nicht sein, den kenne er nämlich gut.
Da wir den Helden unserer Geschichte jetzt schon ein wenig kennengelernt haben, ist der weitere Ablauf unschwer zu erraten. Wenig später befand sich der geschwätzige frühere Seebär ganz in seinem Element, nämlich im Wasser des Hafenbeckens. Das Stilett ganz tief in seinem Rücken enthob ihn der Mühen heftiger Schwimmbewegungen, so wie es Rigobert davor bewahrte, seine Bücher bezahlen und dem Mann irgendeine Erklärung abgeben zu müssen.
Und wieder hatte Rigobert einem Franzosen ins Seemannsgrab geholfen. Wenn das so weiterging, wäre er bald Anwärter auf eine Auszeichnung der britischen Flotte.
Amüsiert von diesem Gedanken begab sich Rigobert auf sein Schiff.