Miss Marmoppel und der Ostagent / Teil 1
Das Frühjahr 1986 zeichnete sich überall in Deutschland durch Kälte und heftige Stürme aus. Miss Marmoppel, die schon drei weitgehend ereignislose Tage in Markscheid verbracht hatte, besuchte am Dienstag, dem 25. März erstmals ihr von ihrem Agentenführer in London vorgegebenes Ziel. Sie trug einen dicken Schal und hatte den Kragen hochgeschlagen, als sie in den seltsam verwahrlosten Laden eintrat.
In einer Ecke türmten sich ausgeschlachtete Radiogeräte meist älterer Bauart, der Boden war schmutzig und es herrschte ein allumfassendes Chaos, dem bestimmt nur sehr wohlmeinende Zeitgenossen das Adjektiv „kreativ“ verliehen hätten. Und mittendrin saß ein Mann mittleren Alters, der an der Rückseite eine Fernsehers herumschraubte und die Besucherin mit heller Stimme begrüßte: „Elektroreparaturservice Ehrhardt, was kann ich für sie tun?“
Der MI6 hatte Miss Marmoppel mit einer vorzüglichen Legende und ausgezeichneten Papieren ausgestattet. Sie stellte sich also mit falschem Namen vor, behauptete in einem kleineren Nachbarort zu wohnen und auf Stellensuche zu sein. In ihrer englischen Heimat habe sie lange im Bereich Elektrotechnik gearbeitet, sei dann wegen ihres deutschen Gatten aber in die Bundesrepublik gezogen. Seit der nun verschieden sei, sei sie leider ein wenig knapp bei Kasse und könne sich daher vorstellen, für ein geringes Salär umgehend im Laden anzufangen.
Natürlich wäre es nicht schwer gewesen, die phantasievollen Erzählungen der Miss Marmoppel als Aneinanderreihung von Unwahrheiten aufzudecken. Dies hätte allerdings einige Tage gedauert und bis dahin wollte sie längst zurück in London sein. Hansi Ehrhardt, der Inhaber des Ladens, der Mann mit der hellen Stimme und höchstwahrscheinliche Ostagent wäre dann auch der Mittel beraubt, ihre Tarnung aufzudecken, weil seine Bewegungsfreiheit im deutschen Gefängnis doch recht eingeschränkt wäre.
Und so kam es, daß Miss Marmoppel unter dem Namen Emma Mylcrest am Folgetag ihre Tätigkeit für (oder eigentlich ja eher gegen) den Elektroreparaturservice Ehrhardt aufnahm.
Beim britischen Auslandsgeheimdienst MI6 hatte man durchaus einen gewissen Respekt vor den ‚Kollegen‘ von der STASI. Sie galten als effektiv, kreativ und überaus engagiert. Was die sich allerdings an Fehlern beim Vorgang ‚Pfuscher‘ geleistet hatten, das spottete jeder Beschreibung. Bei Auswertung der diversen Funksprüche des MfS an den von ihnen so benannten Zuträger mit Wohnsitz in der BRD war es fast schon unmöglich, nicht auf dessen Spur zu kommen. Und die führte nach Markscheid …
Noch am Abend vor ihrem ersten Arbeitstag beim Elektroreparaturservice Ehrhardt hatte Miss Marmoppel den aktuellen codierten Agentenfunk aus der DDR überwacht und war prompt auf eine Nachricht an ‚Pfuscher‘ gestoßen. Sie war leicht zu entschlüsseln: „Wir gratulieren herzlich zur zweiten Frau“.
Und als sie dann schließlich bei Arbeitsantritt von ihrem neuen Chef Hansi Ehrhardt mit einem Glas Sekt begrüßt wurde (begleitet von den Worten: „Ich bin nämlich vor zwei Tagen Vater geworden. Ein gesundes Mädchen!“), da war ihr klar, daß hier irgendwas ganz anders ablief als in ihrer sonstigen beruflichen Praxis.